The Year of the Cannibals

Italien, 1970

Originaltitel:

I cannibali

Alternativtitel:

Los caníbales (ESP)

Les cannibales (FRA)

Cannibals (NLD)

Kanibale (POL)

The Cannibals

Regisseur:

Liliana Cavani

Inhalt

Straßen, U-Bahnen, öffentliche Plätze sind übersät mit Leichen. Es handelt sich die Opfer eines missglückten Aufstands gegen die amtierende diktatorische Herrschaft. Die Passanten sind die grauenvollen Bilder des Todes gewohnt, steigen entweder emotionslos über die Toten hinweg oder ebenso emotionslos an ihnen vorbei. Ihre fehlende Pietät ist der Regierung verpflichtet, die das Gesetz verabschiedete, welches den Bürgern untersagt, sich der Gefallenen anzunehmen und sie würdevoll zu beerdigen. Die Leichen dienen zur Abschreckung. Sie sollen einschüchtern und zeigen, was mit denen passiert, die gegen die Regierung aufbegehren. Antigone widersetzt sich den Anordnungen, sie will unter den unzähligen Toten ihren Bruder ausfindig machen und zur ewigen Ruhe verhelfen. Simultan zu ihrer Suche wird ein Unbekannter an das Meeresufer gespült. Ein Fremder, der eine unbekannte Sprache spricht und sich Antigone anschließt. Alsbald berichten die Fernsehnachrichten von zwei Staatsfeinden, die durch die Straßen streifen, um Gesetz und Ordnung aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Review

I CANNIBALI setzt sozusagen dort an, wo ARCANA endet. Da ARCANA rund zwei Jahre nach I CANNIBALI inszeniert wurde - und kreativer Irrsinn auf wie vor der Leinwand gestattet ist (!) - behaupte ich frank und frei, dass Giulio Questi die Vorgeschichte zu I CANNIBALI erzählt. Was Questi im Chaos enden ließ, wurde von Liliana Cavani mit einem totalitären Regime beantwortet. Mit einer dem Nationalsozialismus und Stalinismus wesensverwandten Herrschaft. Und jede/r der/die gegen die Herrschaftsgewalt aufbegehrt, wird kaltschnäuzig eliminiert und bleibt als Mahnmal am Ort des erzwungenen Ablebens, am Ort des kaltblütigen Mords, liegen.

 

Ich verstehe nicht.

(Tiresia)

 

An einem geruhsamen Strand entdecken vier spielende Kinder den scheinbar leblosen Körper eines Mannes. Von einer Neugier stimuliert tänzeln der Backfisch und drei Knirpse zaghaft um ihre Entdeckung herum. Ist der vor ihnen Liegende wirklich tot oder steckt womöglich doch noch Leben in ihm? Ausgerechnet der Jüngste wie Kleinste in der Gruppe soll das Rätsel lösen, den Körper berühren, ihn anstoßen, ihn aus einem möglichen Tiefschlaf erwecken. Eins… zwei… drei Schubse, das Rätsel ist gelöst, der Fremde bewegt sich. Erwacht aus seinem tiefen Schlaf und scheint die zweite Phase seines Daseins einzuläuten. Der Fremde richtet sich auf. Die Kinder laufen fort. Der Fremde folgt ihnen, öffnet seinen Mund und lässt ein Wort über seine Lippen gleiten, welches von unsichtbaren Schwingen getragen der vierköpfigen Kinderschar hinterher schwebt. Doch die Kinder verstehen die Sprache des Fremden nicht. Wie sollten sie auch? Plötzlich, inmitten der Dünen, richten sich zwei Männer auf, jeder ein Gewehr in den Händen, sie heben ihre Waffen, zielen und feuern. Die Kinder fallen leblos in den Dünensand. Die Todesschützen verlassen hastig den Tatort. Der Fremde bleibt stehen, hockt sich hin und ertastet im Dünensand einen Gegenstand, vermutlich ein Spielzeug, das einem Fisch ähnelt. Die Kamera kommt zur Ruhe, der Bildkader wird mit einer Texteinblendung geziert: „Du siehst uns, aber, wenn du es tust, siehst du nicht den Abgrund in den du gefallen bist“. Tiresia, so lautet der Name des Autors. Tiresia, so lautet der Name des Fremden. Und dieser Name ist freilich Teiresias, dem blinden Propheten aus der griechischen Mythologie, geschuldet. Jener Teiresias, der in Sophokles` Tragödie „Antigone“ einen bedeutenden Auftritt hat.

 

Da sich nun auffallend viel Schmierstoff anbietet, um die Räder zwischen der griechischen Tragödie und dem italienischen Genrekino greifen zu lassen, möchte ich ein paar erklärende Worte zur genannten Tragödie des Sophokles („Antigone“) hinterlassen, die Ihnen zu einem besseren Filmverständnis verhelfen werden. Antigone war die Tochter des Ödipus, der - ohne es zu wissen - seinen Vater tötete und seine Mutter ehelichte. Nachdem Kreon Ödipus aus Theben verbannte, stritten sich Polyneikes und Eteokles um die Thronfolge. Ursprünglich hatten sie miteinander vereinbart, sich die Regentschaft zu teilen, womit Eteokles allerdings nicht mehr einverstanden war. Es kam zu einem erbarmungslosen Bruderkampf, bei dem beide ihr Leben ließen. Kreon ordnete alsdann an, dass Polyneikes nicht beerdigt werden darf. Hund und Vogel sollten sein Fleisch am Orte seines Ablebens verzehren. Antigone widersetzte sich der Anordnung, und wurde in Folge der Missachtung lebendig eingemauert. Der blinde Seher Teiresias versuchte Kreon von dessen Entscheidung abzubringen, doch erst eine Prophezeiung übelsten Unheils brachte Kreon ins Grübeln, aber es war bereits zu spät, denn Antigone hatte sich das Leben genommen. Den Rest können sie bei Bedarf selbst nachforschen, was zu einer recht spannenden Angelegenheit werden kann, denn die griechische Mythologie ist, wie es Alexander DeLarge formulieren würde, voll von Ultrabrutalem und dem alten Rein-Raus-Spiel.

 

Dito wie in den Tragödien des Sophokles die auftretenden Personen auf der Suche sind, ist freilich auch Liliana Cavanis Hauptcharakter, Antigone, auf der Suche. Und zwar auf der Suche nach ihrem Bruder, der sich gegen die eingangs erwähnte Diktatur auflehnte, im Zuge seines Ungehorsams liquidiert wurde und nun als abschreckendes Beispiel irgendwo leblos in den Straßen liegt. Unterstützung von ihrer Familie erhält Antigone nicht. Die Bagage kooperiert stattdessen mit der Polizei und steht hinter den Initiativen der Regierung. Aufständische sind Schädlinge, und der verlorene Sohn hat schließlich nur die ihm zustehende Strafe empfangen.

 

Doch Antigone ist nicht gänzlich auf sich allein gestellt. Denn sie erhält die Unterstützung eines Fremden: Teiresia(s), der alsbald von den Medien als exzentrisch, fremd wie unerträglich umschrieben und von Stund an Mogli (das Findelkind in Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“) genannt wird. Da das Duo erwartungskonform von der Regierung als untolerierbar eingestuft wird und die Medien simultan zur Hetzjagd aufrufen, werden die Volkschädlinge ebenso erwartungskonform von der staatlichen Schutzstaffel verhaftet. Wie die sich anschließenden Bildkompositionen während Gefangenschaft, einhergehenden Verhören und Gefangenenzusammenkünften in der Kantine der Vollzugsanstalt, bieten auch die Bildkompositionen außerhalb der Gefängnismauern ein reiches Feld für rezeptionstheoretische Überlegungen. Beispiele: Teiresia bricht ein Brot, fährt im Stile des Fährmann Charon über einen Fluss, Antigone und Teiresia hüllen sich in Priesterkleider, aus einem Kirchenschrank steigt eine weiße Taube auf, mittels Baumaschinen werden Leichen aufgehäuft…

 

Nebst den zahlreichen Metaphern lassen sich aus I CANNIBALI freilich auch Bezüge zu anderen Filmen enkodieren. Denken Sie an die eingangs gründlich beschriebe Szene, in der die Kinder erschossen werden. Uns werden erschreckende Bilder serviert, die an Bunuels DAS GOLDENE ZEITALTER erinnern. Um es deutlicher zu sagen: Es werden Bilder kredenzt, die an jenen Filmmoment erinnern, in dem ein Vater seinen kleinen Sohn wegen eines lapidaren Vergehens erschießt. Ein Filmmoment, der aufgrund seiner Luzidität und optischen Gewalt noch heute schockierend wirkt. Fernerhin sticht eine Konstellation: Einige Personen stehen am Fenster und beobachten sichtlich erregt, was mit Antigone geschieht, ins Auge. Das Gesehene weckt in mir Erinnerungen an die, Sadismus und Folter mittels eines Fern-, Opern- oder Theaterglas (ich habe den Film nur einmal geschaut und nicht in der Sammlung, sodass ich jenes verwendete Utensil nicht eindeutig bezeichnen kann) konsumierenden Faschisten in Pier Paolo Pasolinis rund fünf Jahre nach I CANNIBALI veröffentlichten Kontroversling DIE 120 TAGE VON SODOM.

 

Das ist allerdings nicht das Einzige, was - ich sage mal mit vorgehaltener Hand - vorgegriffen wurde. Hätte Liliana Cavani ihren Film 1973 oder darüber hinaus inszeniert, dann wären die Linien zur RAF nahezu offensichtlich. Ich spreche auf die im Film thematisierte Zwangsernährung, den Hungerstreik sowie die Isolationshaft (gemäß Ulrike Meinhof eine spurlose Folter, eine Folter viehischen Grades) an. Natürlich ist es nachweislich, dass Fritz Teufel bereits 1967 in den Hungerstreik trat und einige Studenten zum selbigen motivieren konnte, aber richtig publik wurde eine solche Praktik erst mit Eintritt des 17. Januars 1973. Das Datum beziffert den ersten von insgesamt fünf Stammheimer Hungerstreiks, die von Baader und Ensslin mit der einhergehenden Forderung: „Aufhebung der Isolation als Folter für die politischen Häftlinge in der BRD“ koordiniert wurden. Die Anwälte Eberhard Becker, Jörg Lang, Klaus Croissant, Kurt Groenewold erklärten den Grund des Hungerstreiks in einem entsprechenden Papier mit: „Die Existenz von Folter ist Ausdruck des schleichenden Faschismus, der sich in das Gewand der Rechtmäßigkeit zu hüllen sucht“, was im Kontext der Ambitionen, die I CANNIBALI verfolgt, zu weiteren Überlegungen motiviert.

 

Analog zu den eigenen Betrachtungen bietet es sich an, mal in der Tube nach dem I CANNIBALI-Score aus der kompositorischen Feder von Ennio Morricone zu fahnden. Geboten werden gewohnt harmonische Tondichtungen sowie wunderschöne Chorgesänge und ein phänomenales von Don Powell interpretiertes Leitmotiv, dessen Text man eine Doppeldeutigkeit attestieren kann. Einerseits ist es möglich, dass jenes im Film aufbegehrende Individuum als Kannibale beschimpft wird. Der Aufrührer und Neinsager, der den inhumanen Regeln trotzt und - wie Don Powell es singt - glücklich, wild und frei leben und schon gar nicht sterben wird. Andererseits ist es möglich, dass die diktatorische Herrscherkaste als Kannibalen beschimpft wird. So wie es beispielsweise die Hamburger Band „Slime“ in ihrem Song „Großer Bruder“ praktizierte und die Reagan-Regierung (mit Hinweis auf die US-Invasion in Grenada, auf den Contra-Krieg als auch auf den Bürgerkrieg in El Salvador) als Menschenfresser einstufte.

 

Das I CANNIBALI inkludierende Sujet zentralisiert und visualisiert die Zeit nach der Apokalypse. Die Zeit nach der Zeitenwende. Kraft ihrer Diktatur ist es der Regierung gelungen, die profane Zeit in eine sakrale Zeit zu verwandeln. Das Sakrale ist allgegenwärtig, der Zugang zur Moderne verriegelt. Antigone und Tiresia suchen den Ausgang aus dem Sakralen, lehnen sich gegen die Diktatur auf. Das Duo nimmt auf diese Weise eine zentrale Vorbildfunktion wahr und ist in der Lage andere Menschen zu ähnlichen Taten zu motivieren.

 

Entgegen mechanisierter Actionfilmhelden, die stählerne Muskeln zur Schau tragen, simultan das Maskuline zementieren, um den Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen, wirkt die Figur Tiresia. Ein Fremder, der aus dem Nichts kam und mittels seiner Optik, seiner Bewegungen als auch seiner Aura die Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwimmen lässt. Robert Duncan, Chefredakteur des einstigen Musikmagazins Creem, schreibt in einem solchen Zusammenhang, dass beispielshalber Elvis Presley nie komplett Macho war, gemäß Duncan war Elvis definitiv ein femininer Mann. Das Phänomen androgyner Popstar (zu dem Tiresia zweifelsohne das Zeug hat) lässt sich freilich mehrfach im Glam-Rock beobachten, wobei ich nicht allein auf die Kostümierung seiner Protagonisten anspreche. Wer sich ZIGGY STARDUST AND THE SPIDERS FROM MARS anschaut und Bowie inspiziert, der wird meine eben getätigte Aussage simpel nachvollziehen können.

 

Tiresia besitzt darüber hinaus auch das Potential zum Märtyrer. Das Gleiche gilt für Antigone, die allerdings durch ihre rein feminine Schönheit zu verführen weiß. Für Antigone und Tiresia würde der an sich eh unvermeidbare Tod (ich will nicht zu viel verraten!) nicht das Ende bedeuten, denn ihr Märtyrerpotential ermöglicht ihnen die Wiederauferstehung, den Einzug in die Körper künftiger Rebellen, die gegen das unbarmherzige System aufbegehren.

 

 

Fazit: Liliana Cavanis zynischer Blick hinter die Fassade saturierter Bürgerlichkeit provoziert ein Lachen, dass vornehmlich im Halse stecken bleibt. Der Film klagt Diktaturen ebenso an, wie deren passive Erfüllungsgehilfen! Ergo verurteilt I CANNIBALI das Wegschauen, das Tolerieren von Unrecht sowie das passive Abwarten und ruft zum aktiven Widerstand auf. Währenddessen zaubern Giulio Albonico (der Kameramann) und Ennio Morricone Kompositionen von erlesener Exquisität, welche diesen außergewöhnlichen Film zusätzlich adeln und zum Aufstieg in den Olymp der Meisterwerke verhelfen.

 

Abschließend möchte ich anmerken, das der inflationäre Gebrauch des Begriffs Meisterwerk längst dessen eigentlichen Signalwert verschlissen hat und in Folge dessen bedauerlicherweise nicht mehr die benötigte Ausdruckkraft besitzt, um die Genialität eines Filmwerks gebührend zu reflektieren.

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