Manuel

Deutschland, 1982

Originaltitel:

Manuel

Alternativtitel:

Jäger des Herzens

Deutsche Erstaufführung:

04. August 1986

Regisseur:

Peter Obrist

Kamera:

Bernd Heinl

Drehbuch:

Peter Obrist

Inhalt

Das 12-jährige Einzelkind Manuel Pinte (Kai Buth) stammt aus gut situierten Verhältnissen und so gut wie jeder materielle Wunsch wird ihm von den Augen abgelesen. Doch der Junge leidet stark unter den ständigen Szenen der mittlerweile zerrütteten Ehe seiner Eltern, die zu allem Überfluss glauben, diskret genug zu streiten, damit es Manuel nicht mitbekommt. Manuels Vater Helmut (Karl-Heinz von Hassel) ist den ganzen Tag in der Firma oder pflegt unkomplizierte Liebschaften; seine Mutter Margret (Eva Renzi) tröstet sich mit Alkohol und Tabletten und steht daher kurz vor dem Kollaps. Dies alles bringt einen Kontrollverlust über den Jungen mit sich, der in seiner Freizeit tun und lassen kann, was er will. Seine momentanen Leistungen in der Schule sprechen deshalb Bände. Manuel wird zusehends fahriger, nervöser und sogar aggressiver, bis er seine nächtlichen Alpträume bereits am Tage zu sehen glaubt. Um den Familienfrieden wieder herzustellen, greift er zu besonders drastischen Mitteln...

Autor

Prisma

Review

Bei diesem Film des Schweizer Drehbuchautors, Produzenten und Regisseurs Peter Obrist herrscht zunächst Unklarheit darüber, wann er tatsächlich entstanden ist, denn die in unterschiedlichen Quellen angegebenen Produktionsjahre gehen von 1982 bis 1986 doch recht weit auseinander. Der Kinofilm "Manuel" wurde jedenfalls am 4. August 1986 vom ZDF ausgestrahlt. Das Produktionsjahr dürfte vermutlich 1982 sein, da der 1970 geborene Hauptdarsteller Kai Buth zur Entstehungszeit weder 14, noch 16 Jahre alt gewesen sein kann. Anzusiedeln im Bereich eines Familiendramas, geht der Film gleich von Beginn an einen sehr provokanten und überaus lauten Weg, auf dem zum Teil drastische Bilder und auffällige Kontraste geboten werden. Dadurch soll eine glaubhafte Schilderung der Thematik gesichert werden. Was mit idyllischen Eindrücken beginnt, entwickelt sich schnell zu unterschiedlichen Facetten der Angst, mit der der junge Protagonist in Form von Alpträumen konfrontiert wird. Es handelt sich dabei um massive Verlassensängste, die sehr eindringlich im Bild festgehalten werden. Aufgezeigt wird beispielsweise das Verschwinden, der Zusammenbruch oder vielleicht sogar der Tod von Manuels Mutter, was sich offensichtlich in Endlosschleife abzuspielen scheint. Sind diese Ängste begründet? Für einen Jungen in derart desolaten Familienverhältnissen durchaus, schließlich ist er mit den permanenten Hasstiraden deiner hemmungslosen Eltern konfrontiert. Manuel ist trotz vermeintlich behüteter Verhältnisse vollkommen auf sich alleine gestellt, da die Bezugspersonen die Kontrolle über sich und die Erziehung ihres Kindes verloren haben. Ihrer Ansicht nach genügt es, gut situierte Verhältnisse zu bieten, um der Schuldigkeit Genüge zu tun. Viel zu sehr sind die Pintes mit der persönlichen Alltagshölle namens Ehe beschäftigt, sodass es keinen anderen Fokus mehr geben kann.

 

Die Schilderungen von Manuels Alltag werden von der Regie sehr weit getrieben, wenn auch nicht auf die Spitze. Nach den Schulstunden ist die Einsamkeit das tägliche Brot des Jungen. Er spielt am Computer, so oft er will und hat ungehinderten Zugang zu Süßigkeiten, während er die Herrenmagazine seines Vaters durchblättert, um die barbusigen Modelle zu begutachten. Im Prinzip lebt das Kind nur noch in den Tag hinein, beziehungsweise an der Realität vorbei. Sein Vater zwingt ihn, mit auf die Jagd zu gehen, schließlich kann man die Weichen nicht früh genug stellen, damit aus ihm ein Mann wird. Schließlich kommt die ungemütliche Situation buchstäblich wieder hoch, denn Schnaps und Innereien, nacheinander vom Herrn Vater und dessen Geliebten serviert, geben Manuel den Rest. Die Regie schildert die latenten Angstphantasien sehr eindringlich und es ist interessant und ernüchternd zugleich, dass sie sich teilweise auch bewahrheiten werden. Die Projektionsfläche dafür stellt seine Mutter alias Eva Renzi dar, die entgegen ihrer typischen Einsatzgebiete eine deutlich stimmungslabile Note zu vermitteln hat. Alkohol und Valium sorgen temporär dafür, dass sie weiter funktionieren kann, obwohl sie den Zeitpunkt des Zusammenbruchs eigentlich längst überschritten hätte. Eva Renzi, die länger nicht in Deutschland gearbeitet hatte, aber für eine Hauptrolle immer noch zugkräftig genug war, spielt im Rahmen der Gefühlsklaviatur altbekannt, bedient aber wie erwähnt eine Facette, die man bei ihr nicht häufig wahrnimmt: Unsicherheit. Wilde Gefühlsausbrüche, bitterer Zynismus und lautstarke Vorwürfe zeigen die Leidenschaft und Hingabe, die sie in tiefergehenden Rollen stets so glaubhaft erscheinen ließen. Dennoch liegt ein Kollaps in der Luft, weil sie sich körperlich und mental kaputt macht und machen lässt und zudem wohl auf ganzer Linie versagt hat.

 

Auch als Mutter? Nicht, wenn man die Augen und Emotionen ihres Sohnes als Spiegel nimmt. Doch insgesamt gesehen sind die wenigen vertrauten und liebevollen Momente sehr trügerisch, da sie mit Furcht und Misstrauen durchzogen sind. Margret ist mittlerweile zu sehr mit sich selbst und damit beschäftigt, nicht umzukippen, indem eine Art heile Welt vorgegaukelt wird, die schon längst nicht mehr existiert. Manuels Eltern unterschätzen die feinen Antennen ihres Kindes, das auf Veränderungen und Situationen reagiert, ohne sich mitzuteilen. Der stets präsente Zynismus und die demonstrative Verachtung des Vaters gegenüber seiner Ehefrau sind fester Bestandteil des Alltags. Zwar spielen sich diese rabiaten Szenen einer Ehe hinter den Kulissen ab, doch man unterschätzt die Aufmerksamkeit eines ziellosen Kindes, das die Streitereien oder beispielsweise den Alkohol- und Tablettenkonsum der Mutter beinahe schon für normal hält. Verachtung und Vorwürfe dominieren den Umgang der Erwachsenen miteinander. Die unter die Gürtellinie abzielenden Spitzen der Ehefrau drehen sich dem Empfinden nach immer um das selbe: nämlich um die Geliebte, die vulgären Freunde des Göttergatten und dessen mangelndes Interesse am Familien- und Eheleben. Er wiederum hält ihr den hemmungslosen Konsum von Weichmachern vor, die sich negativ auf den nicht vorhandenen Erziehungsstil auswirken. In manchen Szenen fühlt es sich gar so an, als sei eine Prügelei nicht mehr weit entfernt. Die Eltern von Manuel merken nicht einmal mehr, wie tief sie eigentlich bereits gesunken sind. Ihr Tunnelblick lässt keinen anderen Fokus mehr zu, dabei benötigte der Junge dringend eine positive Aufmerksamkeit, die ihn wieder in günstige Bahnen lenken könnte. Doch die Situation stellt sich als Einbahnstraße in eine mögliche Katastrophe heraus, die nicht mehr abzuwenden ist.

 

Dem leider im Jahr 2002 am Berliner Landwehrkanal tödlich verunglückten Darsteller Kai Buth gelingt eine hervorragende Zeichnung der Titelfigur. In einer Mischung aus unverbrauchter Interpretationsgabe und punktgenauem Spiel, überrascht und überzeugt der Jungdarsteller über die komplette Distanz. Ganz im Sinne der Thematik besticht er geradezu mit seinem diffusen und ausschließlich auf dessen Präferenzen ausgelegtem Verhalten, das ein Spektrum zwischen Ausgelassenheit und Lethargie abzudecken vermag. Seine entspannten und lebhaften Phasen sieht man ausschließlich in Verbindung mit der Mutter, deren Labilität die Stimmung jedoch immer wieder aufs Neue kippen lässt und strapaziöse Umkehrreaktionen provoziert, ohne es zu wollen. Szenen aus dem Alltag dominieren den Verlauf genau wie solche, die vor dem Kind fern gehalten werden sollen. In der Schule purzeln die Zensuren ins Bodenlose, Manuel ist hauptsächlich damit beschäftigt, sich mit nichts Anspruchsvollem zu beschäftigen. Um sich wach zu halten und seiner unterschwelligen Aggression freien Lauf zu lassen, stellt er sich drastische Situationen vor. So denkt er sich beispielsweise eine Episode mit seiner Lehrerin aus, die in ihrem kurzen Auftritt einen sehr guten Schliff durch die verlässliche Barbara Freier bekommt. Terroristen stürmen das Klassenzimmer, überwältigen, fesseln und knebeln die sich in Todesangst befindende Lehrerin und der Junge selbst bedroht sie ebenfalls mit einem Maschinengewehr. Generell werden Waffen immer wieder eine recht zentrale Rolle in seinen Tagträumen spielen und sei es auch nur bei PC-Abenteuern. Karl-Heinz von Hassel als Vater feuert diese Affinität aktiv an, denn jeder Mann sollte nach seiner Ansicht zumindest mit einer guten Flinte umgehen können. Weitaus größeren Schaden richtet allerdings seine ausladende Gleichgültigkeit an, die in erster Linie seine Frau treffen soll, aber auch vor seinem Filius keinen Halt macht.

 

Seine zynischen Attacken sind die Torpedos, die auf Ehefrau Margret abzielen, aber ebenso unkalkulierbaren Schaden in der Peripherie anrichten. Von Hassel stattet seine Szenen mit Arroganz, Überheblichkeit, wenn nötig Nüchternheit, aber auch Vulgarität aus, sodass sich die Schlinge um den Hals der Beteiligten immer enger zuziehen kann. Befeuert von einer immer verzweifelter wirkenden, sich aber auch mit letzter Kraft zu wütenden Gefühlsausbrüchen schleppenden Eva Renzi, entsteht eine Art destruktive Dynamik, die glänzend choreografiert wirkt. Zwischen all dem wird Kai Buth hin- und hergerissen, dessen Leistung aufgrund der spürbaren Emotionen und nicht zuletzt wegen einer deutlichen Transparenz im Gedächtnis bleibt. Kürzere Auftritte liefern bekannte Interpreten wie Erik Schumann als verständnisvoller Arzt oder Elisabeth Volkmann als immerwährende Verführung und Geliebte der ersten Wahl. Peter Obrist bringt sicherlich insgesamt einen schwierigen, wenn auch seinerzeit - oder eher gesagt jederzeit - aktuellen, populären und diskussionswürdigen Stoff in Form. Hin und wieder lassen sich einige Oberflächlichkeiten im Szenario herausfiltern, doch diese dienen als Basis für eine umfassend anvisierte Tiefe. Die Geschichte rund um "Manuel" kann naturgemäß nur das Aufgreifen eines von vielen Mosaiksteinchen darstellen, denn unerträgliche, zerrüttete und verfahrene Situationen besitzen unzählige Gesichter. Als isolierter Fall dient die Geschichte somit als Sprachrohr für viele ähnliche Verhältnisse und weist latente Gefahren auf, ohne jedoch praktische Lösungen zu liefern. Vielmehr wird die globale Ohnmacht der vielen Rädchen in einer ausweglosen Maschinerie dargestellt, die nur positiv mit der Tatkraft eines jeden einzelnen funktionieren könnte. Als Ganzes ist "Manuel" jedoch als sehenswert und beeindruckend zu bezeichnen, zumal die Erzählweise trotz verstörender Bilder keine vorgefertigten Schuldigen mit erhobenem Zeigefinger an den Pranger stellt.

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