Das wilde Auge

Italien, 1967

Originaltitel:

L'occhio selvaggio

Alternativtitel:

O Olho Selvagem (BRA)

Ese mundo cruel (ESP)

La cible dans l'oeil (FRA)

The Wild Eye

Deutsche Erstaufführung:

10. Mai 1968

Regisseur:

Paolo Cavara

Inhalt

Das Film-Trio Paolo (Philippe Leroy), Rossi (Giorgio Gargiullo) und Valentino (Gabriele Tinti) zieht durch exotische Länder, um den Verfall der menschlichen Gesellschaft zu dokumentieren. Dabei folgen Rossi – der für den wissenschaftlichen Teil und Location-Hunting verantwortlich ist – und der Kameramann Valentino dem egomanen Regisseur Paolo.

 

Der gabelt unterwegs die Touristin Barbara (Delia Boccardo) auf und die wird zum Objekt der oftmals gestellten und realitätsverfälschenden Szenarien Paolos. Doch trotz der Warnungen ihres Ehemannes John (Lars Bloch), der in Paolo sofort einen rücksichtslosen Soziopathen erkennt, folgt Barbara dem Regisseur, um ihm als Nebendarstellerin bei seinem Projekt und als Bettgefährtin zu dienen.

 

Doch zunehmend erkennt sie mit Schrecken, worauf sie sich da eingelassen hat, denn Paolo ist auf der Jagd nach dem realen Tod vor laufender Kamera – selbst wenn er dafür ein wenig nachhelfen muss. Und die Reise führt immer näher an das Kriegsgebiet Vietnam heran.

Review

Ich hoffe, alle kennen die Geschichte der Macher von „Mondo Cane“? Macht nichts, ich erzähle sie trotzdem – auf meine Weise. Denn die Story dieses Trios ist gespickt mit Legenden und Falschinformationen, die teils sogar von ihnen selbst gestreut wurden. Der Journalist Gualtiero Jacopetti hatte einst eine Vision von einer Welt, die vor die Hunde geht und wollte dies filmisch umsetzen. Hierfür gewann er als Mitstreiter den studierten Anthropologen Franco Prosperi und den Dokumentarfilmer Paolo Cavara.

 

Obwohl Paolo Cavara – Regisseur des hier besprochenen Films „Das wilde Auge“ - nur an zwei Filmen der Gruppe beteiligt war, nämlich „Mondo Cane“ (1962) und „Alle Frauen dieser Welt“ (1963) muss man sich vor Augen halten, dass die tatsächlichen Dreharbeiten zu diesen zwei Projekten mehrere Jahre in Anspruch nahmen. Man hat also viel zusammen erlebt. Was ist also schiefgelaufen, was Paolo Cavara – sehr zum Ärger und Unverständnis seines früheren Kollegen Jacopetti – veranlasste, in „Das wilde Auge“ die gemeinsame Vergangenheit in dieser Form aufzuarbeiten?

 

Um das zu verstehen, kann man sich Cavaras „Das wilde Auge“ ansehen. Oder man wirft einen Blick auf Gualtiero Jacopettis Biographie. Hier die Höhepunkte: nach einer Mitgliedschaft in der faschistischen Jugend meldete sich Jacopetti freiwillig zum 2. Weltkrieg. Nachdem dieser aussichtslos schien, wechselte er 1944 in den Partisanenkampf gegen die Nazis über. Ende 1953 gründet er die Wochenzeitschrift „Chronache.“ 1955 wird er wegen Unzucht mit einer Minderjährigen – der damals 13-jährigen Jolanda Kaldaras – verhaftet, eine Anklage kann nur gegen das Versprechen einer Heirat abgewendet werden. Im selben Jahr macht er von sich Reden mit der Veröffentlichung einiger gewagter – und heimlich aufgenommener – Fotos von Sophia Loren. Das bringt Jacopetti ein Jahr und vier Monate auf Bewährung wegen Herstellung, Handel und Schmuggel mit pornographischen Photos und die Schließung seiner Zeitschrift „Chronache“ ein.

 

1963 widmet er den Film „Alle Frauen dieser Welt“ der Schauspielerin Belinda Lee, die 1961 bei einem Autounfall ums Leben kam. Dann „Mondo Cane“ – ein bemerkenswerter Film, jedoch ohne nennenswerten dokumentarischen Wert. Die manchmal rührseligen, an anderer Stelle zynischen Kommentare passen oft nicht zu den gezeigten Bildern. Gelegentlich werden sogar falsche Angaben zu den Ländern gemacht, wo die Szenen angeblich entstanden seien. Nach Cavaras Ausstieg und lauter werdender Kritik an den Projekten Jacopettis folgte dann „Africa Addio“ (1966), der mit gleich mit mindestens zwei Kontroversen aufwarten kann. Die Geschichte von einer angeblichen Festnahme und drohenden Erschießung des Filmteams ist nicht belegt. In einer anderen Szene, in der man von einem Helikopter aus vorgeblich die Opfer eines Massakers zeigt, sieht man deutlich, wie sich einer von ihnen schläfrig auf die andere Seite rollt. Eine Siesta? Und dann natürlich „Kongo-Müllers“ Truppe und die anschließende Mordanklage gegen Jacopetti, die wohl den Auslöser zu Cavaras „Das wilde Auge“ bot.

 

Sowohl „Africa Addio“ als auch der folgende „Addio Zio Tom“ boten Anlass zu zahlreichen rassismus-Vorwürfen, die sowohl Jacopetti als auch Prosperi vehement bestritten. Nachdem „Africa Addio“ einige Einreiseverbote in afrikanische Länder nach sich zog, musste man die Dreharbeiten nach Haiti verlegen. Kontrovers hier die Danksagung in den Credits an Diktator „Papa Doc“ Duvalier. Man drehte also eine Anklage gegen Sklaverei und Rassismus in einem Land, das selbst Sklaverei und Rassismus (nicht ganz so Dunkelhäutige gegen sehr Dunkelhäutige, verrückt, ich weiß) betrieb - mit möglicherweise unfreiwilligen „Darstellern.“

 

Abschließend zur Biographie sei noch bemerkt, dass auf „Mondo Candido“ (1975) dann auch der endgültige Bruch zwischen Jacopetti und Franco Prosperi folgte, die nie wieder miteinander gesprochen haben sollen. Allerdings waren diese Zwei von Anfang an sehr unterschiedliche Charaktere. Oh, und bevor ich es vergesse, zu den filmischen Anklagen gegen die Ausrottung von Tierarten in Afrika sei bemerkt, dass einer der Beiden – ich glaube, Prosperi - passionierter Großwildjäger war.

 

In Sachen „Das Wilde Auge“ sieht es also wohl so aus: „Paolo“ (Philippe Leroy) ist Gualtiero Jacopetti, „Rossi“ (Giorgio Gargiullo) ist Franco Prosperi, und Paolo Cavara selbst scheint sich in der Rolle des passiven Mitläufers und Kameramanns „Valentino“ (Gabriele Tinti) zu sehen. In diesem ersten und selbständig produzierten Spielfilms von Paolo Cavara geht es recht düster und nihilistisch zur Sache. Philippe Leroy spielt den soziopathischen Paolo meisterhaft, eine Figur, die nicht nur auf der Suche nach Sensationen keinerlei menschliches Gefühl an den Tag legt, ein Chauvinist obendrein, und zudem ein Mann der sich selbst gerne als Intellektuellen darstellt, aber nur über wenig fundiertes Halbwissen verfügt. Meisterhaft ist hier eine späte Szene, in der sich plötzlich Paolos Feigheit zeigt und diese sich mit seiner Sensationsgier einen inneren Kampf liefert.

 

Rätselhaft ist die Figur der Barbara Bates (Delia Boccardo), eine vorgeblich emanzipierte Frau, die sich anscheinend jedoch nach Dominanz sehnt. Sie verkörpert das Gewissen des Films, denn die späteren Ausstiegsversuche von Kameramann Valentino sind eher halbherzig und weitgehend auf seine eigene Sicherheit bedacht.

 

Die mitunter verstörenden Szenen des Films und seine destruktive Gesamtatmosphäre werden musikalisch gekonnt von Gianni Marchetti untermalt, der zu den weniger bekannten Filmkomponisten Italiens gehört, hier aber einen sehr guten Job macht. Auch bei den Drehbuchautoren fährt man schwere Geschütze auf. Neben Cavara selbst werden Fabio Carpi, Tonino Guerra und Mafia-Spezialist Ugo Pirro benannt. Ob der insgesamt 13 mal für den Literaturnobelpreis nominierte Alberto Moravia von seiner Beteiligung weiß, konnte ich allerdings nirgendwo verifizieren, denkbar wäre es aber schon.

Veröffentlichungen

„Das wilde Auge“ ist schon seit Längerem von Camera Obscura angekündigt. Die alte DVD von MCP ist uncut, unscharf und bietet 0 (ausgeschrieben: Null) Extras. Nicht mal Trailer, nichts, nothing, nada, niente.

Filmplakate

Links

OFDb

IMDb

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