La Orca - Gefangen, geschändet, erniedrigt

Italien, 1976

Originaltitel:

La orca

Alternativtitel:

Snatch (USA)

Deutsche Erstaufführung:

01. Juni 1979

Review

Entführt...

 

Gedanken zu La orca, einem Melodram von Eriprando Visconti

 

(Dieser Text enthält Spoiler)

 

Es beginnt wie ein konventioneller Thriller: Drei junge Männer treffen sich, besteigen ein Auto und lauern der sechzehnjährigen Alice (Rena Niehaus) auf dem Nachhauseweg von der Schule auf. Mit dieser Entführung wollen sie die wohlhabenden Eltern des Mädchens erpressen, die innerhalb von drei Tagen das Lösegeld übergeben sollen. Als Mittelsmann fungiert ein blinder Pianist. Das Mädchen wird auf einem abgelegenen Bauernhof untergebracht und von dem jungen Michele (Michele Placido, bekannt aus der Serie La piovra / Allein gegen die Mafia, 1984, von Damiano Damiani) betreut. Als sich die Entführung erheblich länger hinzieht als geplant, werden die Männer nervös, dennoch kommt es zu einer zaghaften Annäherung zwischen Alice und Michele.

 

Alice ist das Zentrum und Herz des vertrackten Melodrams La orca, das 1975 auf die Welle von Entführungen in Italien reagierte. Die Hauptdarstellerin Rena Niehaus (geboren am 18. Dezember 1954 in Oldenburg), ein deutsches Fotomodell, verkörpert das Mädchen im Teenageralter äußert überzeugend. Sie hatte zuvor für David Hamilton vor der Kamera gestanden und ab 1975 mehrere italienische Genrefilme gedreht. Nach Cuore di cane (Warum bellt Herr Bobikow?, 1975) von Alberto Latuada wurde sie von Pier Paolo Pasolini für Saló (Die 120 Tage von Sodom, 1975) angefragt, lehnte jedoch ab, da ihr das Skript nicht zusagte. Dafür drehte sie mit Eriprando Visconti in enger Folge La orca (Gefangen, geschändet, erniedrigt, 1975) und dessen Fortsetzung Oedipus orca (Oedipus Orca – Wilde Früchte, 1976). Bekannt wurde auch ihr Auftritt in dem italienischen Horrorfilm Nero Veneziano (Die Wiege des Teufels, 1977) von Ugo Liberatore. In den frühen 1980er Jahren wurde es still um sie, bis sie 1989 noch einmal auf die italienischen Leinwände zurückkehrte. Danach wurde sie Mutter und verabschiedete sich vom Showgeschäft. 1998 erinnert sie sich im Interview mit „Splatting Image“ (Nr. 38) an diese Zeit: „Also, um ehrlich zu sein, ich habe davon kaum etwas mitbekommen, weil ich praktisch kein Italienisch sprach damals und deswegen einfach nicht so integriert war. Einige von meinen Filmen habe ich heute noch nicht gesehen. [...] Auch fand ich mich selber total unwirklich. [...] Ich konnte die Wörter gut aussprechen, wusste nur nicht, was sie bedeuten... Man sagte mir so ungefähr, was ich zu sagen hatte. Mit Prandino [Visconti] konnte ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht unterhalten. Mein Agent meinte nur, dass er wer sei, auch wenn er wohl nie so berühmt werden würde wie sein Onkel. In jedem Fall war das meine erste Hauptrolle, und ich sagte mir nur: Mensch, greif zu! Die Geschichte als solche fand ich auch sehr interessant, mit der Entführung der reichen Tochter, die dann sehr zwiespältige Gefühle gegenüber ihrem Entführer entwickelt. Als ich ihm am Schluss eine über den Pelz brennen musste, ging mir das total gegen den Strich - mir liegt das Umlegen nicht!“ Diese Ambivalenz ist der Puls des Films, der sich entgegen seinem reißerischen deutschen Verleihtitel gerade nicht in seinen reißerischen Aspekten erschöpft. Dazu war Visconti tatsächlich zu ambitioniert, immerhin trug er einen prominenten Namen: „Ich habe ihn als sehr nervösen, unruhigen Menschen empfunden“, sagt Niehaus. „Er war sehr bestimmt, hatte genaue Vorstellungen davon, wie er die Szenen haben wollte. In dieser Hinsicht war er noch genauer als Lattuada. Er war ernst, aber nicht tragisch - ein schwerer Mensch. Besonders beim zweiten Film, Oedipus Orca, aber das hing auch mit seiner Krankheit zusammen. Man hatte ihm im Zusammenhang mit dieser Krankheit einen Lungenflügel entfernt. Er rauchte wie ein Schlot - vier oder fünf Packungen am Tag. Er war auch sehr sprunghaft in seinen Gefühlsäußerungen. Einmal ist der total ausgeflippt. Wir waren in meiner Wohnung, die wir als Garderobe verwendeten, weil wir ganz in der Nähe drehten. Da kam eine Assistentin rein und meinte, wir müssten den Arzt rufen, weil Prandino einen cholerischen Anfall hatte... Er brauchte eine Beruhigungsspritze. Am Tag darauf ist er erst sehr spät gekommen; Blasco hatte übernommen. 1989 habe ich ihn besucht in der Nähe von Pavia, und da standen überall diese Herz-Lungen-Maschinen rum.“

 

In La orca bekommt Rena Niehaus schauspielerisch viel Raum, was sie umso beachtlicher nutzt angesichts der Tatsache, dass sie weder Schauspielunterricht hatte noch der italienischen Sprache mächtig war. Anfängliche Angst und Panik geht über in Resignation und schließlich erwachenden Widerstandswillen. Auch die Entwicklung der zaghaften Annäherung zwischen Alice und ihrem Betreuer Michele verläuft nachvollziehbar, wenn auch nicht ohne Probleme. Hier verschweigt die gekürzte deutsche Version einen wesentlichen Moment des Films, der ausgerechnet den einzigen Bezug zum deutschen Titel erklären könnte, denn tatsächlich wird Alice zwar gefangen und erniedrigt, nicht jedoch explizit geschändet, vor allem nicht, wenn die Schlüsselszene gekürzt wurde. Hierzu muss man sich erst die Vieldeutigkeit des Originaltitels La orca klar machen, denn damit ist zunächst eine italienische Nobelkleidungsmarke gemeint, die das reiche Mädchen des italienischen Nordens von seinen Mitschülern unterscheidet. Zugleich erinnert der Name natürlich an den bedrohlichen Killerwal gleichen Namens, er parallelisiert den Reichtum gleichsam mit einer latenten Bedrohung. Er ist auch das Schlüsselmotiv jenes Buches, das Alice liest: „Horcynus Orca“ (1975) von Stefano d’Arrigo, ein mit „Moby Dick“ vergleichbarer episch-mythischer Meeresroman, der zur Zeit der Dreharbeiten in aller Munde war. Sprachlich wird der Roman in seiner Komplexität neben James Joyce eingeordnet, während er inhaltlich – ähnlich wie dessen „Ulysses“ – mythologische Motive der „Odyssee“ in das 20. Jahrhundert verlegt. Es geht um einen sizilianischen Bootsmann, der 1943 aus den Kampfhandlungen in Neapel flieht und sich auf den Weg in sein Heimatdorf Charybdis in Kalabrien macht. Der Killerwal begleitet ihn auf diesem Weg der Prüfungen als latente Todesmetapher. Auch Michele im Film ist ein einfacher junger Mann des armen italienischen Südens, ein Fischer aus Kalabrien, der ebenso wie der Mitentführer Paolo (Flavio Bucci, der blinde Pianist aus Suspiria, 1977) vermutlich aus sozialer Not zum Verbrechen motiviert ist. Die Männer betrachten die Mädchen des Nordens als promiskuitiv und verachten sie. Michele findet tatsächlich Hinweise auf frühere Liebhaber von Alice, als er die Briefe in ihrer Tasche liest. Sexuell erregt und zugleich angewidert nähert er sich dem betäubten Mädchen. Während er sie mit der Hand stimuliert, befriedigt er sich selbst. Das ist die einzige Szene des Films, die sexuelle Ausbeutung thematisiert – und zugleich Micheles später positiv konnotierten Charakter ambivalenter gestaltet.

 

Erpirando Visconti ist der Neffe des legendären ehemaligen Neorealisten und späteren Aristokraten des italienischen Monumentalfilms, Luchino Visconti, der mit Il gattopardo (Der Leopard, 1962) und La caduta degli dei (Die Verdammten, 1969) Filmgeschichte geschrieben hatte. Angelehnt an das neorealistische Erbe seines Onkels, der den beschwerlichen Alltag süditalienischer Fischer in La terra trema (Die Erde bebt, 1948) gefilmt hatte, schildert seiner junger Erbe den Alltag des jungen Michele als Hochsehfischer, der von der schönen Blonden aus dem Norden nur träumen kann, wenn Sie elegant (und nackt) auf einer weißen Yacht an ihm vorbeizieht. Sie wird ihm zur Verkörperung unermesslichen Reichtums. Als er sich dem schlafenden Mädchen annähert und sie entkleidet, ist das nahezu bar jeder Schlüpfrigkeit inszeniert. Statt dessen bewahrt Visconti einen kalten, distanzierten Blick auf das Geschehen, filmt in kargen Interieurs, reduzierten und tristen Farben. Sogar die streitbare einschmeichelnde Popmusik, die zu vielen Szenen zu hören ist, trägt zu dieser Distanz bei. So wird der Zuschauer zum intimen Zeugen des Geschehens, nicht aber zum tatsächlichen Voyeur.

 

Eriprando Visconti konnte nie den Status seines legendären Onkels erreichen, obwohl er mit Filmen wie dem Historienmelodram La monaca di Monza (Die Nonne von Monza, 1969), dem Thriller Il vero e il falso (Allein gegen das Gesetz, 1971) und schließlich dem komplex im Stil seines Onkels inszenierten bourgeoisen Melodram Una spirale di nebbia (Eine Spirale aus Nebel, 1977) tatsächlich eine Spur im italienischen Kino hinterließ. La orca gilt als spekulative Entgleisung, was sich nach erneuter Sichtung nicht bestätigt. Vielmehr erinnert der spröde, wenn auch durchaus psychologische Stil Viscontis an seine renommierteren Kollegen aus dem Thrillerfach: Damiano Damiani und Pasquale Festa Campanile (Auto Stopp rosso sangue / Wenn Du krepierst lebe ich, 1977). Mit den barocken Eskapaden seiner giallo-Thriller-Kollegen Sergio Martin, Lucio Fulci oder Dario Argento hat er dagegen nichts gemein.

 

Zugleich ist das Thema von La orca in den frühen 1970er Jahren höchst aktuell, denn es kam regelmäßig zu rücksichtslosen Entführungen von Kindern und Erwachsenen, um sich am Lösegeld zu bereichern. Auch politische Motive kamen im Kontext der Roten Brigaden dazu. Mario Bava drehte mit Cani arrabiati (Wild Dogs, 1974) einen erheblich roheren und zynischeren Film zu diesem Thema. Auch in den zahlreichen Polizei- und Mafia-Filmen dieser Jahre taucht das Entführungsmotiv erneut auf, und meist spielt tatsächlich die sexuelle Vergewaltigung des Opfers eine wesentliche Rolle (Enzo G. Castellaris Il grande racket / Racket, 1976, oder Lucio Fulcis Luca il contrabandiere / Das Syndikat des Grauens, 1980, enthalten berüchtigte Szenen dieser Art).

 

In La orca spielt diese Form des Verbrechens also keine Rolle, statt dessen entfaltet sich die sexuelle Anziehung zwischen Entführer und Opfer eher zart. Tragischer ist vielmehr die Tatsache, dass auch nach Wochen das Lösegeld scheinbar nicht eintrifft. Michele und Paolo ahnen zwar, dass sie zu machtlosen Strohmännern in einem undurchschaubaren Spiel degradiert werden, doch der Film gibt keine nachdrücklichen Hinweise auf den Verbleib des Geldes. Ebenso radikal ist Viscontis Entscheidung, eine unbekannte Nichtitalienerin als vermeintliche Identifikationsfigur zu etablieren, die sich zudem als erheblich intelligenter und durchtriebener herausstellt als ihre Entführer, die dagegen naiv und schwach erscheinen. Als Alice schließlich mit Michele schläft, hat sie ihn dazu selbst verführt und den deutschen Verleihtitel gänzlich ad absurdum geführt. Sie schafft es, den begehrenden Entführer mit intriganten Argumenten einzuwickeln und sich tatsächlich gewaltsam zu befreien – wie er es ahnte, ist Michele zum eigentlichen Opfer der Affäre geworden: der arme Junge aus dem Süden. In den letzten Minuten sehen wir ihn an seinem Bauchschuss langsam und einsam sterben.

 

Die 1977 in die Kinos gekommene Fortsetzung Oedipus orca knüpft direkt am Ende des ersten Films an, entwickelt die Geschichte jedoch noch weiter von Thriller-Stereotypen weg. Die befreite Alice kehrt ins Elternhaus zurück, kann sich jedoch nicht mehr auf ihren Freund einlassen. Die Erinnerungen an die Erlebnisse in der Gefangenschaft quälen sie. Zusammen mit ihrer Mutter macht sie Urlaub auf dem Land. Mit einigen Szenen des ersten Teils zu Beginn lässt Visconti diesen konsequent hinter sich und reduziert die ohnehin spärlichen reißerischen Motive noch weiter. Indem er Alice hier erheblich weniger abgeklärt erscheinen lässt, scheint dieser Film die Radikalität des ersten Teils etwas zurückzunehmen, selbst wenn der genaue Ablauf des Verbrechens auch nachträglich verschwiegen wird. So erfährt man nicht, ob Alices (Stief)Vater tatsächlich die Zahlung verweigert hatte oder das Geld einer Intrige zum Opfer fiel.

 

Ungeachtet dieses zweiten Films sollte La orca als eigenständiges Werk betrachtet werden, das mit schmerzlicher Logik den zwiespältigen Gefühlen von Täter und Opfer widmet. Ein ebenso intensives wie beklemmendes und trauriges Erlebnis.

 

Dieser Text ist ebenfalls im Booklet der Italian Genre Cinema Collection Nr. 4 von Camera Obscura abgedruckt und wurde uns zum Launch dieser Webseite von Marcus Stiglegger zu Verfügung gestellt. Vielen Dank dafür!

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