Mordanklage gegen einen Studenten

Italien, 1972

Originaltitel:

Imputazione di omicidio per uno studente

Alternativtitel:

Chronique d'un homicide (FRA)

Proceso a un estudiante acusado de homicidio (ESP)

Italian Street-Fighters

Mordanklage

Deutsche Erstaufführung:

08. Februar 1974

Regisseur:

Mauro Bolognini

Inhalt

Eine Demonstration von Studenten endet in einer schrecklichen Schlacht, und übrig bleiben zwei Tote: Ein erschlagener Polizist, und ein erschossener Student. Der Untersuchungsrichter Aldo Sola wird beauftragt, die beiden Schuldigen zu finden, aber seitens der Polizei ist eigentlich klar, dass die Sache mit dem toten Studenten ein Unfall, und damit nicht wirklich relevant ist. Tragisch, aber unwichtig. Wichtig ist nur derjenige Student, der grausam und vorsätzlich den Polizisten erschlagen hat. So zumindest sieht es Kommissar Cottone, für den Studenten allesamt nur rauschgiftsüchtige Verbrecher sind …
Ein Schuldiger ist auch gleich gefunden, der Architekturstudent Massimo Trotti, der sich mit der üblichen Mischung aus Trotz und Ressentiments gegen die da oben natürlich kaum in eine bessere Lage bringen kann. Dabei weiß zumindest der Zuschauer sehr früh, wer der denn der wahre Täter ist: Es ist Fabio Sola, der Sohn des Untersuchungsrichters, der sich auch gerne stellen möchte. Aber seine Freunde raten ihm ab: Solange eine Untersuchung gegen den unschuldigen Trotti läuft, solange kann die Propagandamaschine laufen! Richter Sola hat nun drei Probleme am Hals: Er versucht zwar die Unschuld Trottis aufzuzeigen, hat aber gegen die Indizien keine wirkliche Handhabe. Er versucht, die Polizei dazu zu bewegen, wenigstens eine Liste mit Waffeninhabern eines bestimmten Kalibers zu liefern, was diese aus Selbstschutz ins Leere laufen lassen. Und er versucht die Beziehung zu seinem Sohn zu behalten, der sich zunehmend von der Familie entfremdet.

Autor

Maulwurf

Review

MORDANKLAGE… ist ein Film, der gemeinsam mit dem kurz vorher entstandenen METELLO aus dem Oeuvre von Mauro Bolognini seltsam herausragt. Bolognini hat in seiner langen Karriere viele Filme gedreht (laut der OFDB immerhin 46 Stück), und ist dabei quer durch die Genres galoppiert, wobei es inhaltlich meistens Literaturverfilmungen, Dramen und Komödien rund um die Liebe waren. MORDANKLAGE… ist prinzipiell ebenfalls ein Drama, hat dabei aber einen, in der Gesamtbetrachtung ein wenig fremd wirkenden, aktuellen Zeitbezug, der den Film in eine Richtung laufen lässt, die falsche Erwartungen weckt, und den Zuschauer am Ende fast nur enttäuschen kann. Aber warum? „Mordanklage gegen einen Studenten“, das klingt vielverheißend, wie eine Mischung aus Polizotto und Politkrimi, wie ein Crossover aus Umberto Lenzi und Damiano Damiani, vielleicht noch mit einem guten Schuss Giallo. Was passiert hier?

 

Wir starten mit einer Straßenschlacht zwischen Studenten und Polizisten, und diese Schlacht ist hochgradig dynamisch und gefühlsecht gefilmt. Bilder von geprügelten Ordnungshütern und blutig zusammenbrechenden Demonstranten wecken zu allen Zeiten Emotionen, ob nun in die eine oder in die andere Richtung, und die Bilder der eingesperrten Jugendlichen wecken zumindest heute Erinnerungen an die Vorfälle bei den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua 2001. (Die Richtung der anschließenden Ermittlungen seltsamerweise ebenfalls.) Emotionen eben.
Anschließend lernen wir den Richter Sola kennen und stellen fest, dass er eine Sympathiefigur ist. Und dass er durchaus versucht, ausgewogen zu urteilen und in beide Richtungen zu ermitteln, so man ihn denn lässt. Wir lernen auch seinen Sohn Fabio und dessen Freunde kennen. Wir lernen, dass diese Gruppe keine Kommunisten sind sondern Studenten, und damit vermutlich für die Erneuerung des Staates und gegen die Repression kämpfen, wohl aber nicht unter speziellen politischen Vorzeichen (1). Wir besuchen Kellerclubs in denen Folkmusik gemacht wird, und schlussendlich lernen wir die großbürgerliche Familie von Fabio kennen, die er allein schon deswegen ablehnt, weil sie durch und durch bourgeois ist.

 

Nach dem actionlastigen Auftakt läuft der Film nun also in erheblichem ruhigerem Fahrwasser, die Spannung bezieht die Geschichte auf anderen Wegen. Denn die Ermittlungen des Richters laufen nicht so richtig rund, und man merkt deutlich wie alle Gruppierungen, die an den Untersuchungen beteiligt sind, ihre Fallstricke auswerfen und den persönlichen Vorteil über die Wahrheitsfindung stellen. Was Solas Arbeit nicht gerade einfach macht.
Aber dieser, ich möchte es mal Krimianteil nennen, rutscht nach und nach immer mehr in den Hintergrund, um Platz zu machen für ein Familiendrama: Fabio nabelt sich von seinen Eltern ab, und die können gar nichts dagegen tun. Zwar versucht Vater Sola, ein Verständnis für die Jugend der Welt zu bekommen. Er stellt sich sogar mit seinem Sohn hin und diskutiert mit ihm beim Flippern, aber letzten Endes kann auch er nicht aus seiner Haut, wie die meisten Väter in dieser Situation. Was der Sohn, wie die meisten Söhne in diesem Alter, nicht akzeptieren kann.

 

Was dann wiederum zur Klimax zumindest des politischen Teils führt: Der Sohn gesteht dem Vater den Polizistenmord, der in Wirklichkeit nichts anderes als eine Tat im Affekt war, übergibt ihm das Tatwerkzeug, einen Schlagring, und verspricht sich zu stellen, wenn der Mörder des Studenten gefasst wurde. Sola muss also seine Ermittlungen intensivieren, allerdings wird das der Polizei, die sowieso schon über alle Maßen mauert, überhaupt nicht schmecken. Gleichzeitig gerät Sola damit in einen Konflikt: Es wird immer dieser Geruch der familiären Einflussnahme an ihm haften bleiben. Eine Ahnung von Vetternwirtschaft weht heran, und die Polizei, die sich recht undifferenziert als neo-faschistische Schlagstock-Einheit präsentiert, würde Sola mit dem allergrößten Vergnügen in der Luft zerreißen.

 

Eine schwierige Situation für Sola, doch ist dieser politische Krimi wie erwähnt nur die Rahmenhandlung, innerhalb derer das eigentliche Drama passiert: Das Drama, eine Familie auseinanderbrechen zu sehen. Miterleben zu müssen, wie Strukturen, die über Jahre hinweg funktioniert haben und eine sichere Heimat boten, plötzlich zerbrechen unter dem Einfluss unwägbarer Kräfte. MORDANKLAGE… ist in seiner hauptsächlichen Stoßrichtung somit nichts anderes als eine filmische Untersuchung über das schwierige Verhältnis von Eltern und Kindern in einer schwierigen Zeit.

 

„Falsche Ideen machen mehr Angst als Drogen.“
„Und wer sagt, welches die falschen Ideen sind?“

 

Der politische Teil von MORDANKLAGE… ist deutlich in den frühen 70er-Jahren zu verorten, und kann schnell einmal etwas unzeitgemäß wirken. Studenten, die mit dem Matrizenkopierer agitative Flugblätter vervielfältigen. Straßenkämpfe zwischen Linken und der Polizei. Angriffe rechter Schläger auf linke Studenten. Vieles, was in dieser Intensität vor allem in dieser Zeit stattgefunden hat und danach nicht mehr, wobei der letzte Part, die Überfälle rechter Schlägertrupps, im deutschsprachigen Raum in den 70ern eher die Ausnahme waren. Ein italienisches Phänomen, das wir spätestens in Carlo Lizzanis SAN BABILA, 20 UHR: EIN SINNLOSES VERBRECHEN aber als Alltag in den italienischen Großstädten kennengelernt haben. Aber auch wenn dieser Teil mittlerweile leider wieder aktueller geworden ist, so macht sich hier aus heutiger(!) Sicht doch ein gewisser Hang zur Nostalgie breit: Was waren wir damals nicht für tolle Hechte, in unserer autonom-revolutionären Zeit …

 

Der persönliche Teil des Films, das ist derjenige der innerhalb der Narration wirklich zählt. Der Konflikt zwischen dem Vater, der sich in wechselnden Zeiten eine Existenz aufgebaut hat, der eine Familie gegründet und Aufgaben übernommen hat, gegenüber dem Kind, welches das, was der Vater darstellt, grundlegend ablehnt und niederreißen möchte.

 

„Was bist Du geworden?“
„Alles was Du nicht wolltest.“

 

Diesen Part dürften die meisten von uns kennen, und sich in Fabio vielleicht sogar wiedererkennen. Wobei nicht jeder einen Vater wie den Untersuchungsrichter Sola hat, der versucht Verständnis für die Rebellion aufzubringen und sich seine Gedanken zu den Ereignissen macht. Und der seinen Sohn so sehr liebt, dass er sogar versucht mit ihm gemeinsam zu flippern. Das dramatische Ende des Films mag vielleicht ein klein wenig übertrieben wirken, birgt aber einen Funken Hoffnung in der düsteren Stimmung eines Revolutionärs, der meint sich von seinen Eltern abwenden zu müssen: Vielleicht wird ja doch noch alles besser. Und vielleicht kommen die Generationen ja doch noch irgendwie und irgendwann zusammen. Giordano Lupo schreibt dazu: „Heute, wo politische Gründe Generationen nicht mehr trennen, weil niemand mehr an Politik glaubt, gibt es immer noch einen Abgrund, in dem Eltern und Kinder voneinander getrennt werden können. Manchmal fragen wir uns, was unser Sohn geworden ist, und wir antworten traurig: Genau das, was wir nicht wollten. Allein durch die Sichtung dieses Films ist der Zweifel entstanden, dass wir etwas falsch gemacht haben, und vielleicht sollten wir - wie Richter Sola - den Mut haben, anzuhalten und nachzudenken und zu versuchen, zu verstehen.“ (2)

 

MORDANKLAGE… ist ein guter Film, und er ist auch heute noch ein wichtiger Film. Was MORDANKLAGE… aber definitiv nicht ist, ist ein Meisterwerk des politischen Thrillerkinos, denn dann hätte er, wie zum Beispiel Damianis ICH HABE ANGST, eine komplett andere Ausrichtung und eine andere Aussage. Ganz im Gegenteil schafft es Bolognini sogar, eine Ausgewogenheit zwischen den politischen Lagern darzustellen, und beide Seiten, sowohl die Polizei wie auch die Protestierenden, in ein gleichermaßen gutes Licht zu stellen. Jede der Gruppen hat ihre Daseinsberechtigung, und jede Gruppe hat ihre guten und ihre schlechten Beteiligten. Ein Umstand, wegen dem MORDANKLAGE… selbst in Italien keine größere Beachtung fand, da im Jahre 1972 die Extremisierung der Proteste sowie ihre gewalttätige Bekämpfung bereits in vollem Gange war. Ausgeglichenheit war nicht das Motto der Zeit.
Auch war Bolognini niemals ein politischer Filmemacher, und er ist es auch hier nicht, in dieser vermeintlichen Ausnahme zu seinem sonstigen Filmschaffen. MORDANKLAGE… ist ein sehr persönlicher Film, ein Familiendrama mit einem spannenden und politischen Aufhänger und außergewöhnlich aufspielenden Schauspielern. Gekonnt werden die beiden Pole einer (nicht nur damaligen) Jugend, nämlich Rebellion und Familie, Politik und soziales Umfeld, gegeneinander abwägt und geschickt miteinander verbunden, und dieses Spannungsfeld ist interessant und dramatisch, aber es ist, wie gesagt, eben kein reiner Polit-Thriller. Was dann allerdings auch schnell mal zu falschen Erwartungen und, daraus resultierend, zu Enttäuschungen führen kann. Vor allem, wenn man vor der deutschen Videokassette mit dem reißerischen Titel ITALIAN STREET-FIGHTERS steht, und sich in einem Actioner, irgendwo zwischen Joschka Fischer und Renato Curcio, wähnt …

 

(1) Da die Synchronisation der deutschen VHS bei der DEFA erstellt wurde, möchte ich mich für die inhaltliche Korrektheit dieser Aussagen nicht verbürgen! Möglicherweise ist das im Originalton auch genau andersherum …
(2) Quelle: https://www.inkroci.it/racconti-brevi/recensioni-film-recensioni-libri-recensioni-musica/recensioni-film/imputazione-di-omicidio-per-uno-studente.html

Autor

Maulwurf

Veröffentlichungen

MORDANKLAGE… ist niemals im westdeutschen Kino gelaufen, weswegen auch keine entsprechende Synchro existiert. 1974 hat allerdings die DEFA eine sehr hochwertige Synchro angefertigt, mit welcher der Film dann in den ostdeutschen Kinos gelaufen ist. Im Westen erschien erst 1986 eine VHS mit dem bereits erwähnten Titel ITALIAN STREET-FIGHTERS - und der DEFA-Synchro. Und diese ist auch bis heute (Sommer 2020) die einzige deutschsprachige Veröffentlichung geblieben …

Autor

Maulwurf

Links

OFDb
IMDb

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