Die 120 Tage von Sodom

Frankreich | Italien, 1975

Originaltitel:

Salò o le 120 giornate di Sodoma

Alternativtitel:

Saló ou 120 Dias de Sodoma (BRA)

Saló o los 120 días de Sodoma (ESP)

Salo ou les 120 journées de Sodome (FRA)

Salò ou Os 120 Dias de Sodoma (POR)

Salò, or the 120 Days of Sodom (USA)

Deutsche Erstaufführung:

30. Januar 1976

Inhalt

Kurz vor Ende des 2. Weltkriegs widmen sich vier „Libertins“, ein Herzog, ein Bischof, ein Graf und ein Präsident, einem ungewöhnlichen Projekt, das ausschließlich der Befriedigung und der Steigerung ihrer extremen sexuellen Vorlieben gilt. Gemäß einem strengen Regelwerk werden diese Ausschweifungen vollzogen, bis hin zum Tod zahlreicher Beteiligter.

Review

„Salò, die 120 Tage von Sodom“ oder Von der Unmöglichkeit De Sade originalgetreu zu verfilmen

 

In der Literatur wird „Die 120 Tage von Sodom“ im Allgemeinen als Donatien Alphonse François de Sade’s Hauptwerk bezeichnet. Dabei scheint es hier den Sammlern und Literaten ähnlich ergangen zu sein, wie so manchem Filmsammler. Nachdem das Manuskript (ähnlich wie De Sades letzter Roman „ Le Journées de Florbelle“, der jedoch verbrannt wurde und somit verloren bleiben wird) als verschollen galt, wurde es erst 1904 bei einem privaten Sammler entdeckt und 1909 erstmals (ausgerechnet in Deutschland, lol) veröffentlicht. Daher wohl die Begeisterung der „Fans“ für dieses Werk, wegen des 150-jährigen Seltenheitswerts.

 

Aber – das scheint mir etwas ungerechtfertigt, denn meiner Ansicht nach ist „Die 120 Tage von Sodom“ eher De Sades ungeliebtes Stiefkind. Es war sein erster Roman, 1785 während eines seiner zahlreichen Gefängnisaufenthalte auf einer begrenzten Papierrolle geschrieben, die im Wesentlichen ein vierteiliges Exposé enthält, von dem nur der erste Teil fertig ausgearbeitet wurde. Schaut man sich an, wie oft er seine späteren Romane, auch nach (stets anonymem) Erscheinen, überarbeitet und verlängert hat, liegt der Gedanke nahe, dass er das bei „Die 120 Tage von Sodom“ gar nicht wollte. Jeder Schriftsteller hat wohl so etwas irgendwo in seiner Schublade, ein Projekt, das sich schon bei Beginn der Ausarbeitung als undurchführbar erwies oder einfach nicht mehr die gewünschten Inhalte kolportiert.

 

Fakt ist, hätte De Sade diesen Roman beendet, hätten wir eine Aneinanderreihung von sage und schreibe 599 Geschichten (eigentlich 600, da hat er sich aber irgendwo verzählt, genauso wie er einmal mittendrin versehentlich eines der Mädchen mit einem anderen Namen bedacht und diesen dann beibehalten hat) vorliegen, plus den darauf folgenden Ausschweifungen, plus den Bestrafungen etc., und bei dieser Länge wären Inhalte untergegangen, die ihm wichtig waren. Denn De Sade war nicht einfach nur irgendein Ferkel, man findet immer wieder deutliche politische Bezüge, Kritik an Adel und Kirche, Verballhornung der zeitgenössischen Komödie (wie in „Die Philosophie im Boudoir“) und sogar Moral (!), und diese Dinge wären bei einem solchen Mammut-Werk natürlich viel zu sehr in den Hintergrund gedrängt worden.

 

Aber nun zum Film. Pasolini hat die Geschichte in den fiktiven Ort „Saló“ in Norditalien verlegt, in die Zeit kurz vor Ende des 2. Weltkriegs. Der Kamerastil und das Interieur vermitteln ein Gefühl von Trostlosigkeit, die Musik wird ebenfalls eher spärlich eingesetzt. Der Tenor, den Pasolini setzen wollte, war ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Und das deckt sich durchaus mit De Sades Vorstellungen, der ja stets ein Frankreich beschrieb, in dem Adel, Kirche und andere Großkapitalisten das verarmte, hoffnungslose Volk für Alles benutzen konnte, wonach ihnen der Sinn stand. Und auch die Ausschweifungen, die De Sade so gerne genüsslich beschrieb, einschließlich das Foltern und Töten zum Lustgewinn, sind historisch belegt.

 

Pasolinis Film beginnt mit der Unterzeichnung des von den vier „Libertins“ erstellten Regelwerks für die 120-tätige Megasause. Dieses Regelwerk wird von Pasolini weitgehend vernachlässigt, ähnlich wie die exakte Zusammensetzung der Beteiligten, würde den Filmzuschauer aber auch reichlich überfordern. Nur mal zum Spaß: die vier „Libertins“, deren vier Töchter (mit denen sie sich wechselseitig verheiratet haben, bei de Sade praktisch, bei Pasolini nur theoretisch), drei Erzählerinnen (bei De Sade sind es vier), 8 junge Mädchen zwischen 12 und 15, 8 junge Knaben zwischen 12 und 15, sowie 8 „Ficker“ (nicht meine Schuld, die heißen bei de Sade so, bei Pasolini hingegen „Wächter“ oder „Kollaborateure“), die nach ihrer besonderen Beschaffenheit und Größe ihrer Penisse ausgewählt wurden. Die Aufgaben der „Duennas“ (Wächterinnen und Bestraferinnen der Knaben und Mädchen) hat Pasolini, wenn ich richtig aufgepasst habe, hingegen mit auf die Erzählerinnen übertragen. Und dann noch ein wenig Küchenpersonal.

 

Anschließend sehen wir bei Pasolini etwas von der Beschaffung der Knaben und Mädchen. Die Mädchen wurden – wie bei de Sade – von Kupplerinnen besorgt, die Jungen hingegen von Kollaborateuren der Faschisten verhaftet. Bei der ersten Begegnung zwischen den Knaben und Mädchen mit den „Libertins“ erfahren wir bei Pasolini erstmals etwas über das Regelwerk. De Sade hingegen hat diesem Regelwerk und der Beschreibung der Akteure hingegen ganze ca. 80 Seiten in einer gesonderten Einleitung gewidmet.

 

Anschließend werden wir Zeuge von allerlei Abscheulichkeiten, aufgeteilt in drei „Kreise:“ der Höllenkreis der Leidenschaft, der Höllenkreis der Scheiße und der Höllenkreis des Blutes. Hier hat sich Pasolini bei Dantes Inferno bedient, denn bei de Sade sind es vier Teile, und Pasolini hat uns gottseidank (und ohnehin kaum filmisch und gesetzlich machbar) den Teil mit den zahlreichen Darstellungen von Sex und Folter mit und an Kindern erspart. Interessanterweise ist das auch genau der Part, an dem de Sade aufgehört hat, sein Exposé auszuarbeiten.

 

Weiter im Text. An jedem Abend treten nacheinander die Erzählerinnen auf den Plan, um mit Geschichten aus ihrem ausschweifenden und reichlichen Erfahrungsschatz die „Libertins“ zu erregen. Darauf folgen dann sexuelle (im weitesten Sinne) Handlungen, die den Geschichten entsprechen. Widersetzen sich die Knaben und Mädchen werden sie ins „Strafbuch“ eingetragen. Auch hier weicht Pasolini vom Original ab, denn bei De Sade erfolgen die Strafmaßnahmen regelmäßig, bei Pasolini hingegen dient dieses Strafbuch erst für den letzten Höllenkreis. Ebenso verkürzt Pasolini die Hochzeiten und deren Anzahl. Ähnlich nur kurz angeschnitten, die bei De Sade zu jedem einzelnen der Jungen und Mädchen ausführlich geschilderten Entjungferungen. Ihr wisst schon, Vordertür, Hintertür, alles zu vorher im Regelwerk festgelegten Tagen, etc. Ebenfalls erspart bleiben uns De Sades detailreiche Schilderungen von den Demütigungen einer der Töchter der „Libertins“, die in der Originalvorlage schwanger ist, Pasolini hat das komplett weggelassen.

 

Wer den Film „Die 120 Tage von Sodom“ bereits kennt, dem muss ich den Höllenkreis der Scheiße gar nicht erst erklären, will ich auch nicht. Und hier muss man Pasolini erstmals dankbar sein, denn was im Film zwar ein wenig schockierend aber kurz und effektiv dargestellt wird, ist bei de Sade eine endlose Aneinanderreihung von Koprophagie-Geschichten, bis hin zur absoluten Abstumpfung. Wer das Buch kennt, wird es sicher auch zu schätzen wissen, dass Pasolini uns die Nekrophilie-Episoden erspart hat.

 

Am Schluss folgt dann der Höllenkreis des Blutes, also Folter, Verstümmelung und Mord zum sexuellen Lustgewinn. Auch hier wieder ein großes Dankeschön an Pasolini, dass er sich NICHT an die Vorlage gehalten und eine endlose Aneinanderreihung von Sodomie, gepaart mit abgeschnittenen Sinnes- und Geschlechtsorganen während der sexuellen Akte in einem dunklen Schlossverlies präsentiert hat. Stattdessen erinnert Pasolinis Szenerie an einen Gefängnishof, in dem Gefangene von außer Kontrolle geratenem Personal gefoltert, vergewaltigt und hingerichtet werden. Die Anzahl dieser Opfer wurde von Pasolini ebenfalls stark herunter gefahren, denn bei De Sade werden es von Beginn der 120 Tage bis zum Ende 46 Tote. Diesem Höllenkreis voraus gehen die ersten Denunziationen der Mädchen und Knaben untereinander, denn auch wenn keiner von ihnen ahnt, was denn am Ende nun mit ihnen tatsächlich geschehen soll, ist die Furcht vor dem Strafbuch groß, und man will offenbar nicht allein untergehen.

 

Trotz aller Zensur-Probleme ist es Pasolini immerhin gelungen, das scheinbar Unmögliche zu vollbringen, an dem sogar der Autor gescheitert ist: die 120 Tage zu Ende zu führen, sogar mit einem – zugegeben, etwas fadenscheinigen – politischen und gesellschaftlichen Kontext. Und das bei einer kompakten Lauflänge von knapp 120 Minuten.

 

De Sades Originalmanuskript hingegen – eine reine Qual, abstumpfend und leider ziemlich öde, meiner Ansicht nach sein Schlechtestes Werk. Erst im letzten Teil erreicht er einen niederschmetternden Effekt, nämlich eben jene Hoffnungslosigkeit, um die es auch in Pasolinis Film geht: vor der Macht der Herrschenden und des Kapitals gibt es kein Entkommen außer dem Tod. Und selbst der kommt in „Die 120 Tage von Sodom“ meist nur durch die Hand der Mächtigen selbst, zu deren Erregung und Belustigung.

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