Nackt über Leichen

Frankreich | Italien | Spanien, 1969

Originaltitel:

Una sull'altra

Alternativtitel:

Uma Sobre a Outra (BRA)

Una historia perversa (ESP)

Perversion Story (FRA)

One on Top of the Other

Deutsche Erstaufführung:

24. September 1971

Regisseur:

Lucio Fulci

Inhalt

Das Grundgerüst der wendungsreichen Handlung sei kurz erzählt: Der schmierige George Dumurrier (Sorel) leitet eine angesehene San Franciscoer Privatklinik. Er ist »kein guter Arzt«, wie sein Bruder Henry (Alberto de Mendoza) gleich zu Beginn des Films betont. Vielmehr frönt er seinem Leben als Playboy und streicht die Lorbeeren ein, für die andere schuften. Seine Affären, unter anderem mit der Modefotografin Jane (Martinelli), haben seine kränkliche Frau Susan (Mell) verbittern lassen. Als diese unerwartet an einem Asthmaanfall stirbt, kommt George in den Genuss einer hohen Lebensversicherung, weswegen er alsbald unter Mordverdacht gerät. In einem Nachtclub trifft er auf die abgeklärte Stripperin Monica (Mell), die seiner verstorbenen Gattin zum Verwechseln ähnlich sieht, und beginnt ein Verhältnis mit ihr, während er gemeinsam mit Jane versucht, den Tod seiner Frau zu klären. Er selber verstrickt sich dabei immer mehr in einem Netz aus Indizien und Hinweisen, der Verdacht gegen ihn erhärtet sich und bringt ihn schlussendlich in die Todeszelle. Doch selbst hier hält er an seiner Hoffnung fest, dass seine Unschuld noch bewiesen wird.

Review

Riz Ortolanis schrill-energetische Jazz-Klänge untermalen verwackelte Luftaufnahmen von der Golden Gate Bridge. Der Himmel ist nicht blau, sondern grau und diesig, das Meer trüb, die Küstenstadt schläft unter einer Smogwolke. Wir befinden uns in San Francisco, der geheimnisvollen Stadt aus »Vertigo« (Regie: Alfred Hitchcock) und »Basic Instinct« (Regie: Paul Verhoeven), Heimat der aufregendsten femme fatales der Filmgeschichte: Kim Novak, Tippi Hedren, Sharon Stone. Das Jahr ist 1969. Die Betulichkeit der fünfziger Jahre ist dem sorglosen Jetset der ausgehenden Sechziger gewichen, die unterkühlten Neunziger sind noch fern. In »Una sull’altra«, dieser in Kalifornien entstandenen italienisch-französisch-spanischen Co-Produktion, wurden nicht nur die Schauwerte von »Vertigo« übernommen, auch hier handelt es sich um einen erotischen Thriller mit doppeltem Boden: Ein Mann und eine Frau, die Opfer und Täter zugleich sind in einem Verwirrspiel aus Geldgier und Leidenschaft, und die Frau hat zwei Identitäten. In Hitchcocks Klassiker verliert James Stewart die von Kim Novak gespielte Madeleine Elster/Judy Barton gleich zweimal — eine Frau, die durch die ihre Liebe zerbrechlich wurde und deshalb scheiterte. Marisa Mell ist als Susan Dumurrier/Monica Weston unter Lucio Fulcis Führung eine Spur ausgekochter, ihre Berechnungen scheinen am Ende (beinahe) aufzugehen. Jean Sorel, nach seinen Auftritten bei Visconti und Buñuel damals auf dem Höhepunkt seines Schaffens, spielt ein überheblich-arrogantes Weichei, ist quasi James Stewart light, ein hilf- und rückgratloser Tropf ohne Gewissen. Nein, sympathisch ist hier niemand. Elsa Martinelli tritt auf: burschikoser Kurzhaarschnitt, hartes Make-up, in einem Lederlesben-Outfit. Sie ist die ergebene Geliebte des Helden und versucht, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.

 

Wo Hitchcock seine Geschichte zügig erzählt, lässt Fulci sich Zeit. Mells Striptease im Roaring Twenties wirkt geradezu uferlos, die Zeit ist aufgebrochen, die Luft des Nachtclubs scheint zu flirren, die Farben sich aufzulösen. Ortolanis Musik, zunächst noch vibrierend, dann lasziv das Tempo verlangsamend, trägt das nuancierte Spiel der sich auf einem Motorrad räkelnden Mell minutenlang. Mit Argwohn und Faszination verfolgen Sorel und Martinelli ihre Bewegungen. Das Lokal erinnert an einen babylonischen Kinderspielplatz: Luftballons wirbeln umher, nackte und halbnackte Damen schaukeln durch die Luft, auf den Tischen wird getanzt. Nach ihrem Auftritt gleitet Susan/Monica/Marisa wie eine Göttin durch dieses Wunderland, die Statistinnen weichen ihrer Aura, die Kamera verfolgt sie. Sie setzt sich zu Sorel und Martinelli, die sie noch immer sprachlos anstarren, bestellt Champagner und bietet den beiden ihre Liebesdienste feil.

 

Stewart und Novak tauschten in »Vertigo« zu Bernard Herrmanns elegischer Musik einen der längsten Küsse der Filmgeschichte. Zehn Jahre später war die Sprache der Erotik im Kino expliziter geworden: Wie eine Amazone reitet Monica (mit blonder Perücke) den überwältigten George — Bilder, die bereits die fulminante Eröffnungssequenz aus »Basic Instinct« vorwegnehmen. Später, in einer Schlüsselszene des Films, spielen Mell und Martinelli gekonnt mit der Doppelbödigkeit weiblicher Sexualität: Jane/Martinelli hat Monica/Mell unter dem Vorwand, sie fotografieren zu wollen, in ihr Atelier gelockt und versucht, sie zu verführen, um im Bett vielleicht geschickt ein paar Informationen zu erfragen. Auf ihr liegend, fragt sie die Mell: »Soll ich das Licht löschen?« — »Ihr Partner hat mir gesagt, wir würden nur Fotos machen.« — »Können wir nicht noch mehr machen?« — »Doch, aber das kostet mehr.« Eine fast siebenminütige Szene, aus der Kameramann Alejandro Ulloa, Cutterin Ornella Micheli und Lucio Fulci mit phantasievollen Kamerapositionen, ausgefallener Lichtsetzung und weicher Montage ein knisterndes Kammerspiel machten, das zu den heißesten und traumwandlerischsten Momenten des italienischen Kinos gehört; ein in sich geschlossener Film im Film gewissermaßen. Vergleichbar aufregende Momente sind Fulci nur noch in »Una lucertola con la pelle di donna« (1971) gelungen.

 

Gewiss, »Una sull’altra« fehlt die technische Perfektion amerikanischer Produktionen. Hitchcock benötigte für »Vertigo« gut und gerne fünf Monate Drehzeit, Fulcis Giallo entstand komplett zwischen dem 2. Dezember 1968 und dem 27. Januar 1969. Nicht immer ist das Licht gut, die Kamerafahrten sind oft unsauber, die Anschlüsse passen manchmal einfach nicht. Auch die drehbuchbedingten Brüche in der Logik — George erkennt die Frau, mit der er seit Jahren verheiratet ist, nicht, weil diese eine blonde Perücke und farbige Kontaktlinsen trägt? Ernsthaft?? — sind nicht von der Hand zu weisen, und ganz sicher wird sich auch nicht jeder Zuschauer für das gemächliche Erzähltempo erwärmen können. Nichtsdestotrotz übt »Una sull’altra« — übrigens auch unter dem Titel »Perversion Story« bekannt — eine Faszination aus, der man sich, wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat, kaum entziehen kann. Dieser Film ist wie ein Sog. Im letzten Viertel des Films zieht Fulci die Spannungsschraube noch einmal kräftig an, Schicht für Schicht wird das Intrigenspiel entblättert, und das beklemmende, vor Ort in San Quentin gedrehte Finale lässt einen auch heute noch vor Spannung an den Fingernägeln kauen. Wie zu jener Zeit üblich, spielt Fulci gekonnt mit den Möglichkeiten des split screen.

 

Besonders in Frankreich und Italien war »Una sull’altra« ein beachtlicher Erfolg gewesen, dennoch geriet er über die Jahre in Vergessenheit. Fernsehsender zeigten ihn kaum, und auch auf Video war er schwer auffindbar. Zeitweise glaubte man gar, das Original-Negativ sei verschollen. Am 24. Februar 2007 — (zufällig) an Marisa Mells 68. Geburtstag — erschien der giallo in den USA erstmalig restauriert auf DVD. Leider hatte man nur eine 97minütige Fassung vorliegen, in Deutschland hatte der Film eine Länge von 107 Minuten, in Italien war er 109 Minuten lang. Erst kürzlich erschien in Österreich eine Neuauflage des Films, die DVD soll angeblich 14 Minuten länger sein als die US-Fassung.

 

»Una sull’altra« war der erste von insgesamt vier Filmen, in denen Marisa Mell eine Doppelrolle spielte, bis 1975 sollten noch »Marta« (Regie: J. A. Nieves Conde), »Sette orchidee macchiate di rosso« (Regie: Umberto Lenzi) und das düster-leidenschaftliche Märchen »La encadenada« (Regie: Manuel Mur Oti) folgen. In »Una sull’altra« sprengt ihre Schönheit beinahe den Rahmen — vor allem die Demaskierung am Flughafen ist ein großer, unvergesslicher Moment, einer der schönsten ihrer gesamten Filmkarriere.

Veröffentlichungen

Unter dem Titel »Perversion Story« ist die DVD bei Severin in den USA erschienen und liefert eine schicke Bonus-CD mit Ortolanis kongenialen Soundtrack. Die österreichische DVD protzt dafür mit einer Fülle von herausgeschnittenen Szenen.

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