Ohne Gnade

Italien, 1948

Originaltitel:

Senza pietà

Alternativtitel:

Sans pitié (FRA)

Sin piedad (ESP)

Without Pity

Deutsche Erstaufführung:

02. Januar 1951

Regisseur:

Alberto Lattuada

Kamera:

Aldo Tonti

Musik:

Nino Rota

Inhalt

Auf der Suche nach ihrem Bruder fährt die junge Angela (Carla del Poggio) heimlich auf einem Gütertransport Richtung Livorno. Unterwegs wird sie Zeuge, wie US-Soldaten eine Gruppe von Plünderern verfolgen, und der afroamerikanische GI Jerry (John Kitzmiller) landet, einen der Verbrecher verfolgend, angeschossen bei Angela. Sie rettet ihm das Leben, und in Livorno begegnen sie sich wieder. Beide sind sanftmütige Naturen. Angela möchte nicht als Prostituierte enden, wie so viele heim- und mittellose andere Frauen ihres Alters. Jerry beginnt sich um sie zu kümmern, doch damit bringt er sich in große Schwierigkeiten. Als Jerry von der Militärpolizei als Helfer einer Schmugglerbande festgenommen wird, landet er im Militärgefängnis, während Angela nichts anderes bleibt, als sich doch als Prostituierte für den Chef der Schmugglerbande zu verdingen. Doch Jerry flieht und will Angela mit in die USA nehmen. Doch ihre Träume von Freiheit und Frieden sind zum Scheitern verurteilt.

Review

„Ohne Gnade“ ist ein Film des Neorealismus, der 1948 von Carlo Ponti für Lux Film produziert wurde. Nach einer Idee von Ettore Maria Margadonna verfassten Regisseur Alberto Lattuada und Federico Fellini mit Tulio Pinelli das Drehbuch, Fellini ist darüber hinaus als Regieassistenz gelistet. Überhaupt ist „Ohne Gnade“ so etwas wie ein „Familienfilm“: die beiden weiblichen Hauptrollen gingen an die Ehefrauen von Lattuada und Fellini, Carla del Poggio (Angela) und Giulietta Masini (Marcella), für Letztere war es die erste größere Rolle. Der männliche Hauptdarsteller John Kitzmiller wurde von Carlo Ponti entdeckt und fungierte am Set als Dolmetscher und Vermittler zu… dazu kommen wir jetzt. Obwohl „Ohne Gnade“ auch ohne die historischen Hintergründe gut verständlich ist, möchte ich diese zunächst erwähnen.

 

Im Winter 1944/45 wurde das Küstengebiet zwischen Pisa und Livorno zu einem gewaltigen Materialdepot der US-Armee. Bekanntlich waren viele Afroamerikaner unter den US-Soldaten, und schon bald entbrannte eine außergewöhnliche Situation. Schmugglerbanden hatten es auf die Bestände der Amerikaner abgesehen und bestochen die Fahrer der Armeelastwagen dahingehend, sich ausrauben zu lassen. Oftmals dienten den Schmugglern Prostituierte als Lockvögel, die Beziehungen mit den Soldaten anfingen. Es lässt sich schwerlich rekonstruieren, wie viel von alledem belegt oder wie viel Rassismus ist, aber in jedem Fall behauptete die US-Armee, dass vornehmlich schwarze Soldaten für die Diebstähle verantwortlich waren.

 

Aus dieser Grundannahme vertiefte sich der Graben zwischen den Hautfarben hin zu Gewaltausbrüchen. Soldaten schossen auf Militärpolizei, Militärpolizei auf Schmuggler und umgekehrt. Eine weitere Komponente war, dass viele afroamerikanische Soldaten nicht in die USA zurückkehren wollten. Sie machten gute Geschäfte mit den Schmugglern, hatten italienische Freundinnen, teils mit diesen auch Kindern. Ihr Versprechen, diese Frauen mit in die USA zu nehmen und dort zu heiraten, war ein leeres Versprechen, denn solche Mischehen zwischen Schwarz und Weiß waren damals in den USA undenkbar.

 

Immer mehr afroamerikanische Soldaten desertierten und lebten in einer Art Stadt aus Zelten und Hütten im Kiefernwald von Tombolo. Die Bewohner jener Zelte und Hütten erklärten ihre „Stadt“ schließlich gar zur Freizone und prägten somit die größte bekannte Meuterei innerhalb der US-Armee. Erst im Herbst 1946 gelang es in einer gemeinsamen Militäroperation von US-Armee und Carabinieri den Kiefernwald zu roden. Als Vorwand bediente man sich der Behauptung, die Bewohner würden dort flüchtige deutsche Kriegsverbrecher verstecken, was allerdings nicht auszuschließen ist. Damit endete die Geschichte jedoch noch nicht, denn vielen der Afroamerikaner gelang es selbst zu diesem Zeitpunkt, der Deportation zurück in die USA zu entgehen. Darsteller John Kitzmiller wurde während der Dreharbeiten als Dolmetscher und Vermittler eingesetzt, damit der Film in dieser nach wie vor unsicheren Gegend gedreht werden konnte.

 

All dies spiegelt sich in der Handlung des Films wieder. Angela (Carla del Poggio) hat ihr Elternhaus verlassen, aus Gründen, die der Zuschauer nicht so genau erfährt. Wir wissen nur, dass sie mal ein Kind hatte, das aber nach nur 12 Tagen starb. Sie will nach Livorno, wo ihr Bruder seine letzte bekannte Adresse hatte, doch sie kann ihn nicht finden. Man sagt ihr, dass der Mann im weißen Anzug, Pier Luigi (Pierre Claudé), der einzige sei, der ihr weiterhelfen könne. Pier Luigi ist der örtliche Schwarzmarktboss, schmiert Soldaten und Schiffskapitäne, um an Ware zu kommen, setzt Prostituierte ein, um Kontakte zu potenziellen Deserteuren zu pflegen. Der Darsteller dieses Pier Luigi (Pierre Claudé) hat ein sehr markantes Gesicht, und über seine Figur erfahren wir sehr schwammig, dass er mit Frauen nichts anfangen könne. Er selbst sagt, er sei krank, das habe er schon als Kind gewusst. Man denkt zunächst an Impotenz oder eine Anspielung auf Homosexualität, doch tatsächlich bricht Pier Luigi im späteren Verlauf völlig unvermittelt tot zusammen. Es war die einzige Filmrolle dieses „Pierre Claudé“, welches das Pseudonym eines römischen Hotelbesitzers war, ein Laiendarsteller also. Noch dazu ein verdammt guter.

 

Da es sich bei „Ohne Gnade“ um ein neorealistisches Drama handelt, kann der Zuschauer sich denken, dass Angela ihren Bruder nicht finden wird. Die Beziehung zwischen Jerry und Angela ist anders als die zwischen den übrigen Soldaten und Italienerinnen. Angela hat ihm das Leben gerettet, und schon nach kurzer Zeit fühlen sie sich wie Seelenverwandte. Jerry sieht sich als großer Bruder, will Angela beschützen und ihr dabei helfen, sich ihre tugendhafte Seele gewahren zu können. Da es sich bei „Ohne Gnade“ um ein neorealistisches Drama handelt, kann der Zuschauer sich denken, dass dies nur bedingt gelingt. Doch Lattuada zeigt deutlich, dass auch die Prostitution Angelas gutes Wesen nicht beeinträchtigen kann. Am Ende bleibt beiden nur die Hoffnung auf Flucht. Jerry will den Schmugglerboss Pier Luigi berauben, um an ausreichend Geld zu gelangen, um eine Passage für sich und Angela in die USA zu kaufen. Doch da es sich bei „Ohne Gnade“ um ein neorealistisches Drama handelt... jaja, schon klar.

 

Lattuada machte kein Geheimnis aus seinen Intentionen: „Ohne Gnade“ sollte ein Schlag ins Gesicht für die beginnende McCarthy-Ära sein, die Geschichte einer Liebe zwischen einem Afroamerikaner und einer weißen Frau wollte er bis in die USA importieren. Carlo Ponti zeigte sich begeistert und zögerte nicht. Leider muss man sagen, dass „Ohne Gnade“ zwar ein mitreißendes Drama ist, hervorragend gefilmt von Aldo Tonti, mit variationsreicher Musik von Nino Rota, doch in vielerlei Hinsicht fehlt es ihm an klaren Positionen. Die Liebe zwischen Jerry und Angela ist keine körperliche Liebe, sie ist tief, aber platonisch. Das Thema Rassismus innerhalb der US-Armee wird in der zweiten Hälfte angeschnitten, bleibt – angesichts des brisanten historischen Kontexts – aber enttäuschend vage. Als es Angelas Freundin Marcella tatsächlich gelingt, für sich und ihren afroamerikanischen Geliebten eine Passage in die USA zu bekommen, verabschiedet sich diese mit den Worten, dass sie dort heiraten würden. Der Film verliert kein Wort darüber, wie unwahrscheinlich ein solcher Ausgang wäre.

 

Alberto Lattuada begründet diese und andere zurückhaltende Elemente seines Films mit der schwierigen politischen Lage am Drehort. So wollte er zum Beispiel eine Szene drehen, die die Deportation der afroamerikanischen Soldaten zu ihren Schiffen Richtung Amerika zeigt, während ihre italienischen Geliebten, teils mit gemeinsamen Kindern auf dem Arm, ihnen von Ruderbooten aus nachwinken. Diese Szene erwies sich jedoch als nicht realisierbar. Auch prahlte Lattuada gern mit dem Internationalen Erfolg seines Films, den er jedoch aufbauschte. In Italien erzielte „Ohne Gnade“ ansehnliche, aber durchschnittliche Einspielergebnisse. Im Jahr 1948 zählte man die Einspielergebnisse von 46 italienischen Produktionen, davon erreichte „Ohne Gnade“ Platz 11 mit einem Einspielergebnis von 201.250.000 Lire. Auf Platz 1 schaffte es Riccardo Fredas Victor Hugo-Zweiteiler „I miserabili“, welcher auf IMDb zwei verwirrende Einzeleinträge aufweist.

 

„Ohne Gnade“ verfügt über alle wichtigen Komponenten eines neoliberalistischen Dramas, doch Lattuada ist kein De Sica oder Rossellini. Er driftet wiederholt in Oberflächlichkeit ab.

 

Der aus Michigan stammende afroamerikanische US-Soldat John Kitzmiller soll übrigens schallend gelacht haben als Carlo Ponti ihm die erste Filmrolle für Luigi Zampas „In Frieden leben“ (Vivere in pace 1947) anbot, da er bis dahin nichts mit Schauspielerei zu tun hatte. Tatsächlich brachte es Kitzmiller im Anschluss mit einer Reihe von Auftritten in neorealistischen Filmen zu großer Popularität in Italien, während er in den USA eher unbekannt ist. Seine letzte Rolle hatte er 1965 in Géza von Radványis „Onkel Toms Hütte“. Er starb noch im selben Jahr im Alter von 51 Jahren – nur zwei Monate nach seiner Hochzeit – in Rom an einer Leberzirrhose.

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Kommentare (1)

  • Gerald Kuklinski

    Gerald Kuklinski

    18 Februar 2021 um 17:56 |
    Es wäre nett, wenn jemand in der ersten Zeile des Review-Textes aus dem Wort "Neoliberalismus" ein "Neorealismus" machen könnte. Ich hasse Freud :-)

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