Lolita am Scheideweg

Spanien, 1980

Originaltitel:

Eugenie (Historia de una perversión)

Alternativtitel:

Eugenie (History of a Perversion)

Wicked Memoirs of Eugenie (USA)

Eugenie (Bir Sapıklık Tarihi)

Eugenie de Sade (ESP)

Lolita - lemmen papitar (FIN)

Erotismo

Deutsche Erstaufführung:

5. März 1981

Regisseur:

Jesús Franco

Kamera:

Juan Soler

Drehbuch:

Jesús Franco

Inhalt

Alberto de Rosa (Antonio Mayans) holt seine Stiefschwester Alba (Mabel Escano) aus dem Sanatorium ab und erzählt ihr von seiner neuesten Leidenschaft: dem Mädchen Eugenie (Katja Bienert). Alba verspricht, ihm Eugenie zuzutreiben und sie gemeinsam mit ihm zu genießen. Eine gefährliche Entwicklung für das junge Mädchen, denn Alberto hat die tödliche Gewohnheit, seine abgelegten Liebschaften finalmente zu entsorgen. 

Review

Zu einem der am schönsten gefilmten und inhaltlich intensivsten Filme von Jess Franco kann man LOLITA AM SCHEIDEWEG zählen. Gleichsam zu einem seiner Kontroversesten. Da die Hauptdarstellerin kein Problem mit dem Film hat, habe ich auch keins. Abschließend sei gesagt, dass Franco den Film im Einklang mit der damaligen spanischen Gesetzgebung gedreht hat. 

 

Da die Spanische und die deutsche Fassung sich beträchtlich unterscheiden, beginnen wir mit EUGENIE (HISTORÍA DE UNA PERVERSIÓN). Alberto de Rosa und Alba de Rosa sind Bruder und Schwester. Oder doch nicht? In einem frühen Dialog sprechen die beiden über Geschwisterliebe, dennoch benennt Alba ihn an zumindest einer Stelle als Stiefbruder. In Francos Filmen spielt Inzest oft eine Rolle, dennoch ließ er sich für gewöhnlich ein entschärfendes Hintertürchen offen, hier mit nur einem einzigen Wort in einem einzelnen Satz. Darüber hinaus ist von Bruder und Schwester die Rede.

 

Wir kommen aber nicht weiter, wenn wir nicht erst mal den Haushalt der de Albas kennenlernen. In Calpe, zwischen den Gemeinden Valencia und Alicante, steht der von Ricardo Bofill in 1968 entworfene und erst 1973 endgültig fertiggestellte Apartment-Komplex La Manzanera, bestehend aus der La Muralla Roja, dem Xanadu-Gebäude und dem unterhalb am Meer befindlichen Social Club of Manzanera. Letzterer war eine Art Café mit Badestelle, markant durch seine großen Rundglasfenster, die wie überdimensionale Bullaugen wirken. Alle drei Locations hat Franco schon früh für sich entdeckt, so waren diese bereits in SIE TÖTETE IN EKSTASE (1971), DIE PERVERSE GRÄFIN (La Comtesse Perverse, 1974) und anderen zu sehen.

 

In EUGENIE (HISTORÍA DE UNA PERVERSIÓN) leben Alberto und Alba in der Muralla Roja. Mit zu ihrem schrägen Haushalt gehören der blinde Walter (Melo Costa) und die Ex-Prostituierte Sultana (oder Prinzessin Irina, da widerspricht sich der Film an zwei Stellen), die von den De Rosas wie ein Hund gehalten wird, was diese aber nicht zu bekümmern scheint. Sultana wird gespielt von Lina Romay. Wir erfahren auch, dass Alba unheilbar krank ist und jede Aufregung (zum Beispiel Sado-Spiele) meiden soll und die de Rosas schon oft gemeinsam nichtsahnende Mädels vernaschen, die dann…verschwinden.

 

Alberto erzählt nun seiner Schwester, dass er sich in ein Mädchen namens Eugenie verguckt hat, die zwar ein bisschen aber kaum ernsthaft mit ihm flirtet. Tatsächlich projiziert er seine Begierden auf das Mädchen, unterstellt ihm seine Gedanken. Bei der Person Eugenies wird es nun ein wenig konfus. Pressemitteilungen und ein Dialog den Vater betreffend, benennen die Familie als die Tanners. Dialoge hingegen benennen Eugenie und Mutter als die De Bressacs. Also wieder so eine Stief-Geschichte? Anscheinend heißt nur der Vater Tanner, also eher ein Stiefvater oder Liebhaber der Mutter. Mich würde auch interessieren, wo die IMDb ihre Sinopsis hat, die komplett aus dem Arsch gepult ist, absoluter Quatsch.

 

Um an Eugenie heranzukommen, freunden sich die De Rosas mit den De Bressacs an. Alba verführt den Vater, und während einer Peitschensession nötigt sie ihn, ihnen Eugenie für ein paar Tage zu überlassen. In der Rolle des Erwin Tanner wirkt erstmals Tony Skios in einem Franco-Film mit. Er würde in neun weiteren zu sehen sein, bevor seine Zusammenarbeit mit Franco mit BAHÌA BLANCA (1984) endet. Eugenies Mutter wird von Evelyne Bienert verkörpert, die ihre Tochter Katja während der Dreharbeiten begleitete.

 

Eugenie findet das Ehepaar sympathisch, und ihre erwachende Sexualität hält sie passiv bereit. Doch der Climax erfolgt nicht einvernehmlich. Unter Drogen gesetzt benutzen sie die De Rosas, was Eugenie anschließend zunächst für einen Traum hält. Franco liefert damit eine der herausragendsten erotischen Momente seiner Laufbahn. Da er mit seiner jungen Titeldarstellerin vorsichtig umgehen muss, folgt eine traumgleiche Szene mit Großaufnahmen von Lippen, Augen, Brüsten. Die Stimmung des Films wechselt. Während die voyeuristischen Verfolgungen Eugenies durch die De Albas von Daniel Whites nostalgisch anmutenden Caféhaus-Jazz untermalt waren, werden die Klänge nun elektronischer rund bedrohlicher, und ohnehin verlässt der Film nun den Pfad der leichten Erotik hin zu drohender Gefahr.

 

Alberto will sich nun lösen aus dieser Welt, die seine Schwester Alba in ihrem Wahnsinn für ihn schuf – und damit noch größeren Wahnsinn in Alberto auslöste. Natürlich kennen geübte Genre-Fans die Grundstory bereits: aus Jess Francos DIE JUNGFRAU UND DIE PEITSCHE (Eugenie, 1970) mit Marie Liljedahl in der Titelrolle. Dennoch unterscheiden sich die beiden De Dade-Adaptionen inhaltlich und stilistisch. 

 

Die spanische Fassung EUGENIE (HISTORÍA DE UNA PERVERSIÓN) hat eine Lauflänge von etwa 95 Minuten.

 

Die deutsche Fassung im Verleih von Residenz Film kommt auf 77 Minuten, und auch wenn die Handlung dieselbe ist, gibt es ein paar wesentliche Unterschiede. Stephen Thrower spekuliert indessen darüber, ob der Film tatsächlich ausschließlich eine spanische Produktion von Julián Esteban war oder ob Lisa Film (oder Rapid) von Anfang an mit drin hingen. Ich meine mich zu erinnern, dass Lisa Film mal angegeben hat, den Film aus Spanien eingekauft zu haben. Es wird auch die Story erzählt, Franco habe während der Dreharbeiten Carl Schenkel ausgeholfen, der gerade KALT WIE EIS drehte, und so sei erst ein Kontakt zustande gekommen. Ich weiß nicht, ob das zeitlich so hinhaut. Und wie kam Franco zu Katja Bienert, wenn nicht durch Lisa Film oder Rapid? Egal.

 

In LOLITA AM SCHEIDEWEG wurde die Musik von Daniel White (und mindestens ein Track von Franco) durch einen Score von Gerhard Heinz ersetzt. Der Großteil der Tracks ist nicht neu, sondern wurde erstmals in Hubert Franks DIE INSEL DER TAUSEND FREUDEN verwendet, auch eine Lisa Film-Produktion. Insbesondere in den ersten zwei Dritteln entsteht durch Umschnitte und Heinz‘ Musik der Eindruck eines der vielen anderen Lisa-Sommerfilmchen mit düsteren Untertönen. Doch um der deutschen Fassung Credit zu geben: insbesondere im letzten Drittel wirkt LOLITA AM SCHEIDEWEG spannender und noch düsterer als in der spanischen Version.

 

Einige Szenen wurden verkürzt, insbesondere die berühmte Masturbationsszene von Katja Bienert und die zwei voyeuristischen Beobachtungen durch Alberto und Alba. Um nicht allzu viel Laufzeit einzubüßen und Eugenie eine weniger passive Rolle zukommen zu lassen, wurde sie hier und bei dem späteren Missbrauch durch die De Rosas mit erotischen Phantasien ausgestattet, die ihre Bemühungen und Wahrnehmungen untermalen. Jene wurden Hubert Franks DIE INSEL DER TAUSEND FREUDEN entnommen. Zu sehen sind Bea Fiedler, Elisa Servier, Roger Clenzy, Philippe Garnier und Otto Retzer, welche in Francos Originalfilm selbstredend nicht vorkommen. Außerdem eine dunkelhäutige Schönheit, von der die IMDb behauptet, es sei Aline Mess, aber das ist sie nicht.

 

Die Szene, in der Eugenies Vater einwilligt, seine Tochter Alba und Alberto zu überlassen, fehlt komplett. LOLITA AM SCHEIDEWEG enthält aber auch ein paar kürzere Einstellungen, die in EUGENIE (HISTORÍA DE UNA PERVERSIÓN) nicht zu sehen sind. Die längste davon (auch diese nur wenige Sekunden) zeigt Alberto, der Hündchen Sultana an einer Leine durch den Hof der Muralla Roja führt.

 

Insgesamt ein sehr schöner Film, doch die Veröffentlichungslage ist nicht zum Lachen. Eine seltene Gelegenheit den Film noch mal zu sehen, bot sich 2013 auf dem 11. Hofbauer-Kongress in Anwesenheit von Katja Bienert, wo man die deutsche Kinofassung projizierte. Im Heimkino kann man lediglich auf VHS-Rips zurückgreifen. Hier kursiert einmal eine deutsche VHS-Kopie, sowie eine mittlerweile untertitelte Fassung des US-Videotapes mit dem Titel EROTISMO. Das US-Tape war für spanisch-stämmiges Publikum konzipiert und verfügte somit ursprünglich über keine englischen Untertitel.

 

EUGENIE (HISTORÍA DE UNA PERVERSIÓN) entstand im Juli/August 1979 in Calpe. Um diesen Zeitpunkt herum drehte Franco auch JUNGFRAU UNTER KANNIBALEN (El caníbal, 1980), ebenfalls für Julián Esteban und Lisa Film. Eine Veröffentlichung auf DVD oder Blu-ray steht aus. In England ist der Film komplett verboten, in den USA wäre es rechtlich äußerst riskant. Auch hierzulande wäre LOLITA AM SCHEIDEWEG bei jetziger Gesetzgebung ein Wackelkandidat. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben.

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