Die Leiche des Fischers Pocho wurde im Hafen eines kleinen 700-Seelen-Dorfes angespült, im Kopf eine Kugel. Nachdem der Wunderheiler und Untergangsapostel „El Miserias“ (Jess Franco) von einer nahegelegenen Insel erzählt, auf der Sirenen leben und Männer ins Unglück stürzen, begeben sich Inspektor Carlos Fernández (Antonio Mayans) und der Pathologe Ramirez (Juan Soler) dorthin. Der Inspektor ist überrascht, dort auf seine alte Freundin Alida (Eva León) zu treffen, die in ihrem Haus auf der Insel ihren Lebensunterhalt als Prostituierte für sich und ihre und stumme Schwester María (Lina Romay) verdient. Der Fall ist schnell gelöst: Alida hat Pocho erschossen, der sich an ihrer Schwester vergreifen wollte, doch da sie unter dem Schutz des zwielichtigen Dorfpatrons Raul Sebastián (Antonio Rebollo) steht, wird man auf dem Totenschein Tod durch Unfall eintragen. Unterdessen plant die junge Silvia (Analía Ivars) Sebastiáns Leibwächter Andy (José Llamas) zu heiraten, gegen den Willen ihres Vaters. Zudem ahnt sie nicht, dass Andy in Wahrheit der leibliche Sohn des Gangsters ist. Als er ihr dies gesteht, zerstreiten sich die beiden, und Andy will den Rat seines Vaters befolgen, und es mal mit einer anderen Frau versuchen. Dummerweise hat er sich dafür María ausgesucht, und so endet auch Andy mit einer Kugel im Kopf. Silvia sinnt auf Rache.
„Now where the hell did that come from?“
(Stephen Thrower)
Es ist schon faszinierend, dass es Jess Franco immer wieder gelingt, einen zu überraschen. Inmitten seiner Golden Films-Phase, in der er – für wenig Geld – künstlerische Narrenfreiheit genoss wie noch nie, schob er in Eigenproduktion (Manacoa Films) dieses schöne und gut durchdachte Krimi-Drama dazwischen. Im Juni 1984 drehte er nach eigenem Drehbuch „Bahía blanca“ in Lo Pagan, Murcia, mit weitgehend denselben Darstellern, mit denen er in dieser Phase eben drehte.
Doch was für eine Überraschung. Das Drehbuch ist nicht nur außergewöhnlich gut, Franco hält sich sogar daran. „Bahía blanca“ ist viel zu gut durchdacht für Improvisationen. Um es mal zusammenzufassen: neben einer recht komplexen Geschichte haben die Protagonisten wirkliche Charaktere, bisweilen gar richtige Tiefe. Zwar ist „Bahía blanca“ dennoch mehr Mood-Piece als massentaugliche Ware, aber das macht diesen Film eben so außergewöhnlich. Anstatt sich an sexueller Gewalt zu ergötzen, beschäftigt sich „Bahía blanca“ mit den Folgen sexueller Gewalt. Die Motive und Gefühle der Protagonisten und die Rachegeschichte zum Ende hin, spielen mit den Erwartungen der Zuschauer und anstatt diese konventionell zu erfüllen, kehrt Franco der „Gerechtigkeit“ den Rücken wie in einem Park Chan-wook Film.
Andy hat es nicht verdient, gerächt zu werden. Andys Mörder haben es nicht verdient, Opfer von Silvias Rache zu werden. Da „Bahía blanca“ mit seiner Story nicht wirklich hinter dem Berg hält, mache ich das auch nicht. Alida wurde zuvor zusammen mit ihrer stummen Schwester María – die keine Prostituierte war oder ist – wegen Prostitution ins Gefängnis gesteckt. Sie sind geflohen und haben sich anschließend auf ihrer Insel versteckt. Dort wurde María Opfer einer Vergewaltigung und ist nun im sechsten Monat schwanger. Alida würde alles tun, um María zu beschützen. Doch was ist ihr Motiv? Eine heimlich von María belauschte Unterhaltung zwischen Alida und dem Inspektor wird zu einem weiteren Puzzle-Teil für das tragische Finale.
„Bahía blanca“ hat eine wunderschöne Kameraarbeit, die sich nicht zuletzt auf die schöne Landschaft konzentriert. Franco gibt sich viel Mühe, seine Darsteller in eindrucksvolle Bilder zu hüllen. Was ist überhaupt mit den Darstellern los? Ob Lina Romay, Antonio Mayans, Eva León oder ohnehin eher mindertalentierte Schauspieler wie Antonio Rebollo, Analía Ivars und José llamas, die sind hier alle wundervoll! Selbst Lina Romay verzichtet, obwohl wir sie nicht das erste Mal in einer Rolle als Stumme oder Zurückgebliebene sehen, auf jegliches Overacting diesbezüglich. Die Musik von Julián Sacristán ist ebenfalls ein Traum, auch wenn die Stücke etwas überstrapaziert werden.
Wo bleiben also die Rückschläge? 1. „Bahía blanca“ schaffte es leider nie in spanische Kinos, sondern wurde Direct-to-Video veröffentlicht. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, von dieser VHS bis heute die Finger zu lassen und „Bahía blanca“ als Erstsichtung auf der qualitativ beeindruckenden Blu-ray von Severin Films erleben durfte. 2. Defizite gibt es beim Dubbing. Jess Franco und Lina Romay sprechen sich nicht selbst, vielmehr haben sie die Parts von Juan Soler und Eva León übernommen. In der ersten Szene mit Franco als Darsteller bewegt dieser kaum die Lippen, während der Sprecher uns einen ellenlangen Dialog vor den Latz knallt. Schlecht umgesetzt sind auch – mal wieder – Szenen, in denen Protagonisten vermeintlich Gitarre spielen oder singen, nichts davon passt zur dazu gespielten Musik. Das kennt man von Franco. 3. Zwei Nachtszenen sind Franco misslungen, die sind viel zu dunkel geworden.
Nichts davon trübt allerdings den Genuss, den „Bahía blanca“ bereitet. Wer je Zweifel daran hatte, dass Jesús Franco ein guter Regisseur war, möge „Bahía blanca“ schauen oder an die Wand gestellt werden. Wer „Bahía blanca“ gesehen hat und trotzdem behauptet, Franco sei ein schlechter Regisseur gewesen, möge sich vertrauensvoll an mich wenden. Ich betätige dann den Abzug, ohne mit der Wimper zu zucken.