Auf einem Filmfestival in Frankreich stiehlt Laura mit ihren Komplizen Diamanten im Wert von 500 Millionen Dollar. Der Job läuft allerdings nicht ganz rund: Einer der beiden Männer wird schwer verwundet und verhaftet, und Laura setzt sich mit den Diamanten ab. Sie schafft es bis nach Amerika, wo sie glücklich, und mit einer neuen Identität versehen, heiratet. Dummerweise hat ihr Angetrauter einen gewissen Ehrgeiz und wird amerikanischer Botschafter in Frankreich. Woraufhin Laura, die jetzt Lily heißt, genau dahin zurückkehren muss, wo sie nie wieder hinwollte. Nie wieder hin durfte: Nach Paris. Und dann passiert der Super-Gau: Ein Paparazzo fotografiert Lily, und am nächsten Tag hängt in ganz Frankreich ihr Portrait an den Litfasssäulen. Wo sie jeder sehen kann. Auch die Komplizen von damals …
Ebenen. Verschiedene Ebenen. Ebenen der Wahrnehmung, und Ebenen der Erzählung. FEMME FATALE beginnt mit einem Ausschnitt aus FRAU OHNE GEWISSEN. Wir sehen Barbara Stanwyck, eine der klassischen Femme Fatales der Filmgeschichte, und wir sehen ihren Partner Fred McMurray, wie er sie reizt und immer wieder behauptet, dass sie nichts richtig kann. Barbara Stanwyck im Fernseher wird allmählich von der modernen Femme Fatale vor dem Fernseher überlagert: Rebecca Romijn-Stamos als Laura, die vor einem zu erledigenden Job fernsieht, und von ihrem Partner Eriq Ebouaney gemaßregelt wird, dass sie wohl nichts ordentlich erledigen kann, weil noch so viel zu tun ist. Ebenen …
Der Job findet in einem Kino während eines Festivals statt. Wir sehen die Schauspielerin Sandrine Bonnaire als Sandrine Bannaire (behaupten jedenfalls die Untertitel), und wir sehen den Regisseur Régis Warnier (ebenfalls) als sich selbst. Beide sind Schauspieler, die Rollen spielen, die (zufällig) ihre eigenen Charaktere darstellen. Mittendrin Rie Rasmussen als Veronica, die sich mit Laura trifft um Sex auf der Damentoilette zu haben, während ein Komplize von Laura OCEANS ELEVEN-mäßig in die Technikzentrale einbricht um im richtigen Moment den Strom abzustellen. Dazu ertönt ein Bolero, der sich parallel zur Intensität des, zunehmend aus dem Ruder laufenden, Jobs steigert. Am Ende behält Laura als einzige die Nerven, streift die Hülle der schönen Verführerin ab und geht als eiskalter und cooler Dieb lässig von dannen. Andere Perücke. Andere Ebene. Anderes Leben?
Die Ebenen wechseln dann noch öfters: Durch eine Verwechslung wird Laura zu Lily, und da teilt sich nicht nur der Bildschirm, sondern in dem Augenblick splittet sich auch die Geschichte in zwei Erzählstränge. Im ersten Strang werden die Ebenen und Masken noch ziemlich häufig gewechselt. Allein was Lily anstellt um Nicolas und die Polizei auf eine falsche Fährt zu locken ist ohne Spoiler unmöglich zu erzählen. Die Story besteht aus Schichten, die bildlich und narrativ freigelegt werden wie die Häute einer Zwiebel. Der Sicherheitsmann Shiff beschattet Nicolas, der wiederum Lily beschattet. Ist Shiff wirklich das letzte Glied in der Kette? Seit spätestens TENEBRAE auch ein beliebtes Motiv ist die Person, die hinter der Person auftaucht. Schichten. Häute. Ebenen …
Später, wenn Lily ihren Mann, Alain Figlarz und Nicolas wie ein Jongleur gegeneinander ausspielt und immer darauf achtet, dass auch alle Bälle gleichzeitig in der Luft sind, dann schwirrt der Kopf, und die Spannung ist so heiß und abgeklärt wie die Sexszene zwischen Romijn und Banderas. Alles muss hinterfragt werden, jedes Detail kann wahr sein oder auch falsch, keine Aussage ist für bare Münze zu nehmen. Lily ist die einzige Person, die alles unter Kontrolle hat, auf jede mögliche Aktion immer die passende Reaktion parat hat, und niemals die Fassung verliert. Eine echte Femme Fatale, die mit Männern spielt wie mit Pappkameraden, und diese auch genauso bedenkenlos opfert. Es gibt da diesen Moment, wenn sich Nicolas und Alain Figlarz prügeln (was aber nur als Schattenbild gezeigt wird, wie etwas, was auf einer anderen Ebene stattfindet. Oder besser noch auf einer anderen Bühne.), während Lily im Vordergrund einen Heidenspaß an der Schlägerei hat und lacht und lacht und lacht. Sie weiß genau wie Männer ticken: Als Belohnung gibt es schnellen Sex, und Nicolas wird daraufhin alles tun was sie will. Wahrlich eine Frau ohne Gewissen …
Und dann ist da noch der zweite Erzählstrang, der ohne Spoiler nur schwierig wiederzugeben ist. Sagen wir es so: Laura wird nicht zu Lily. Aber Lily wird zu Lily. Zur richtigen Lily. Lily wechselt die Spur und rettet Laura das Leben, während Laura zu einer anderen Laura wird. Ich weiß, das klingt jetzt kryptisch, aber wer den Film kennt muss zugeben, dass das nicht ganz falsch ist …
Die Ebene, mit der der Film begann, also quasi die Film-im-Film-Ebene, die zieht sich in Andeutungen immer wieder durch FEMME FATALE. Aufgefallen ist mir der Moment, wenn Eriq Ebouaney dem bestochenen Wachmann einen Zigarillo in den Mund steckt. Eine Szene, die wir schon in so vielen Western gesehen haben, und die so merkwürdig vertraut vorkommt. Genauso vertraut wie das Outfit von Lily im Hotelzimmer, das an Kim Novak in VERTIGO erinnert, oder an Michael Caine in DRESSED TO KILL.
Apropos DRESSED TO KILL: De Palma ist ja bekanntlich großer Fan von Alfred Hitchcock, und hat eben bei DRESSED TO KILL sogar Hitchs Leib- und Magenkomponisten Bernard Herman engagiert. Bei FEMME FATALE ist der japanische Avantgardemusiker Ryuichi Sakamoto dabei, und sein Score klingt verteufelt nach dem großen Bernard Herman. Was in keinster Weise negativ gemeint ist! Aber es ist bemerkenswert, wie sehr dieser klassisch klingende Soundteppich die Handlung in Hitchcocks Nähe rückt. Und die verschiedenen Zeiten und Welten nah zusammen kommen. Denn auch Hitchcocks bevorzugtes Motiv war ja, dass sich in einem Menschen verschiedene Persönlichkeiten verstecken und mehrere Schichten derselben Person darstellen können. So wie Lily und Laura …
Aber die Schichten können auch getrennt wird, und zwar durch die Sprache. Es ist auffällig, wie sehr sich die Zweisprachigkeit durch den Film zieht. Die Menschen sprechen meistens englisch (bzw. deutsch in der Synchro), aber es wird auch viel französisch gesprochen, und die Distanz ist dann immer deutlich vorhanden. In zwei Szenen gibt es ein Kauderwelsch aus deutsch und französisch, und genau in diesen beiden Szenen (Laura/Lily und Bruce im Flugzeug, Lily und der LKW-Fahrer) entsteht menschliche Nähe und Verständnis. Wenn die sprachliche Barriere durchbrochen wird, vergeht auch die menschliche Distanz- oder anders ausgedrückt: Laura/Lily spricht beide Sprachen und kann sich mühelos auf allen Ebenen bewegen. Sie ist die einzige, die durch die Schichten hindurchdringen kann. Was im zweiten Erzählstrang dann zu einer ganz bestimmten Veränderung führen wird.
Diese Veränderung wird eingeleitet durch eine subjektive Kamera in Lilys Elternhaus Bis dahin haben wir Laura/Lily gar nicht richtig wahrgenommen. Als Vamp in blonden Haaren beim Job, mit schwarzer Kurzhaarperücke und großer Sonnenbrille auf der Flucht, als subjektive Kamera beim Blick auf die Eltern – und erst in der Wohnung sehen wir Laura das erste Mal ohne die Faktoren welche sie verändern. Ohne die Dinge, die sie zu etwas anderem machen. Welche sie überhaupt erst zu einer Femme Fatale machen, die sie, während sie durch Lilys Elternhaus streift, gar nicht zu sein scheint. Hier wird eine Ebene gewechselt, die Geschichte bekommt eine andere Färbung, und hier beginnt die Teilung in die zwei Erzählstränge. Es beginnt aber auch die Veränderung von Laura: Laura wird nicht nur zu Lily, sondern Laura wird, während wir sie bewusst und unverändert wahrnehmen, auch zu Laura. Einer anderen Laura. Der Laura aus dem zweiten Erzählstrang …
Die Kamera, die sich den Gesichtern verweigert, ist noch ein paar Mal zu sehen. Veronica ist Rie Rasmussen, die während des Jobs offensiv und nur von vorne gezeigt wird. Nackt, sexuell aggressiv, provokant, extrovertiert. Wann immer sie aber später auftaucht, ist sie nur ein Schatten. Eine Gestalt, die ohne Gesicht und in Tarnkleidung über das Pflaster von Paris huscht, während ihre Stiefel den Sekundenzeiger einer ablaufenden Uhr hämmern. Rie Rasmussen spielt eine Schauspielerin die eine Rolle spielt. Die als Schauspielerin deutlich und doch nur als Abbild zu sehen ist, während die private Veronica anonym bleibt. Unerkannt. Unsichtbar. Das Foto, das Nicolas als erstes von den beiden Frauen macht, deckt beider Anonymität auf. Möglicherweise stellt Nicolas darum irgendwann fest, dass dieses Bild sein Leben verändert hat.
Die Ebenen überlagern sich, eine Metaebene ist erst gar nicht vorhanden. In Welten existieren Welten: In der Alternativweltliteratur gibt es die Sandwich-Theorie, die besagt, dass alle Welten und alle Zeiten gleichzeitig existieren, und dass man innerhalb einer Zeit von Welt zu Welt wechseln kann. Ob De Palma diese Theorie kennt? Dieses Vexierspiel aus Sein und Schein legt es nahe …
Diese Theorie hängt auch eng damit zusammen, dass Laura Dinge mehrmals erlebt. Zum Teil als Laura, teilweise aber auch als Lily. Dem Zuschauer geht es als Beobachter nicht anders – selbst das Showdown findet zweimal statt: Der Zuschauer erlebt das gleiche Spektakel auf zwei verschiedene Arten. Nicht wie bei Quentin Tarantino aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln (wie etwa in JACKIE BROWN), sondern identisch, doch mit feinen, aber entscheidenden Unterschieden. Trotzdem erscheint es dem Zuschauer wie ein Déjà vu. Und der Schriftzug Déjà vu taucht auch immer wieder regelmäßig auf: “Als Déjà-vu (frz. déjà vu = ‚schon gesehen‘) bezeichnet man eine Erinnerungstäuschung, bei der eine Person glaubt, ein gegenwärtiges Ereignis früher schon einmal erlebt zu haben. Dabei hat die betroffene Person das sichere Gefühl, eine neue Situation bereits in der Vergangenheit in gleicher Weise schon einmal durchlebt zu haben.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%A9j%C3%A0-vu). De Palma spielt mit diesem Gefühl, sowohl auf der Ebene der Hauptfigur wie auch auf der Ebene des Zuschauers. Schein und Sein vermengen sich, die Realitäten gehen ineinander über.
Könnte man das für einen Cineasten dann schon als paradiesischen Zustand betrachten? Das kann ich nicht sagen, aber das letzte geschriebene Wort des Films lautet: Le paradis. Ich glaube, mindestens ein Charakter des Films hat dann gerade seine Erfüllung gefunden. Und der Zuschauer, der bereit ist, sich auf diesen Metafilm einzulassen, möglicherweise ebenfalls …